Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
Sozialisation vonstatten geht: die zunehmende Kontrolle über sich selbst, angefangen bei der Ausscheidung bis hin zu allen Impulsen, die zunächst ungefiltert aus dem «Es» (wie Freud diesen Urquell der Seele nannte) emporkommen, wie z.B. Lärm machen, draufhauen, etwas kaputtbrechen, treten, spucken, im Matsch suhlen, onanieren, beißen, gierig und ohne Manieren essen usw. – Durch Vorbilder, Belohnung und Strafe sowie durch viele Erklärungen, was man wann tut und was sich nicht gehört, wird (mehr oder minder) erreicht, dass die vitale und wildwüchsige Vielfalt möglicher Verhaltensweisen eingeschränkt und in geordnete Bahnen gelenkt wird. Das Ergebnis ist der zivilisierte Mensch, der im Gegensatz zum «ungehobelten Flegel» sauber, sittsam und diszipliniert sich an all jene Regeln hält, die das Zusammenleben erleichtern (sollen). Übrigens sind die Vorstellungen darüber, was als sittsam und anständig zu gelten hat, einem starken historischen Wandel unterworfen. So fand im Mittelalter niemand etwas dabei, wenn bei Tisch laut gerülpst und gespuckt, das Essen mit (ungewaschenen) Händen aus dem gemeinsamen Gefäß genommen und in Tischnähe uriniert wurde (Elias, 1976). Man tat sich also, aus unserer heutigen Sicht, «keinen Zwang an».
Dieser zunehmende Zwang ist Kennzeichen unserer Zivilisiertheit. Es lässt sich damit leben, manche Sitten haben sich wieder gelockert, und kein Kind wird neurotisch, wenn es anständige Tischmanieren lernt und einen Teil seiner wildwüchsigen Impulse kontrolliert.
Wenn dieser ganze Vorgang aber mit zu frühen Forderungen und Vorschriften, Strenge oder sehr starren engen Vorstellungen darüber betrieben wird, was als sittsam und anständig anzusehen ist, und wenn jedwede verbotene Regung schwer geahndet und mit dem vernichtenden Brandmal der Sündigkeit und Bösartigkeit verfolgt wird, und wenn Anflüge von trotzigem Aufbegehren mit doppelt harter Strafe belegt und schließlich «ausgemerzt» wurden – dann bleibt dem Kind nur, diesen Zwang von außen zu verinnerlichen und mit Unerbittlichkeit gegen seine vitalen Impulse, gegen sich selbst einzusetzen. Das «liebe, brave Kind» wächst zum «anständigen Menschen» heran, in dessen Seelenleben ein Polizeistaat herrscht. Ein ewiger Kampf steht bevor, bei dem die Waffen der «Selbstdisziplin» und «Selbstbeherrschung» immer wieder «nachgerüstet» werden müssen, denn der unterdrückte Feind hat sich zu einer starken Untergrundbewegung formiert.
Da es eine menschliche Eigenart zu sein scheint, innere Kriegsschauplätze nach außen zu verlagern, werden nun auch die Mitmenschen als leibhaftige Träger verbotener Regungen erspäht, die strenge Kontrolle der eigenen Unterwelt auf die Kontrolle der fehlgeleiteten Mitwelt verlängert. Politisch zeigt sich diese Tendenz im konservativen Urbedürfnis, den Bürger an die Kandare zu nehmen, «law and order» zum obersten Leitprinzip zu wählen, jeden Regelverstoß gleich als «Terror» zu empfinden, sowie in der schnellen Bereitschaft, die Gesellschaft von jenen «Elementen» zu «säubern», die sich als «Chaoten» gebärden oder sonstwelche Züge aufweisen, die sie als «Unkraut» im wohlgepflegten Schrebergarten erscheinen lassen. Im zwischenmenschlichen Nahkontakt zeigt sich diese Tendenz darin, dass der Kontrollierende uneingestandene Eigenimpulse «vorsorglich» seinem Gegenüber unterstellt und den missionarischen Kreuzzug startet.
Betrachten wir noch einmal unseren Beispiel-Vater aus dem Muster-Dialog. Die «wüsten» Haare und die sparsame Bekleidung seiner Tochter wären vielleicht geeignet, jene Lüsternheit in ihm selbst wachzurufen, die er sich streng versagt. Umso nervöser sein Argwohn, dass andere Männer darauf ansprechen werden – und von da ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Gosse, in der die Tochter unweigerlich landen wird, wenn er nicht eingreift. Selbstverständlich ist jeder Mann, der ihr nahe kommt, («dahergelaufen kommt») «der falsche Umgang» – erstens will er ohnehin nur das eine, und zweitens droht er die Tochter der väterlichen Einflusssphäre zu entziehen. Dieser Macht- und Kontrollverlust macht ihn eifersüchtig, ohne dass er sich dies eingestehen würde. Vielmehr äußert er sich auf der «sachlichen» Ebene: die ungelöschten Lampen, der Wasserhahn, die Telefonrechnung, die Pünktlichkeit. Und dass die Tochter «sich ein bisschen zusammenreißen» möchte – diese Mahnung kann als jene allgemeine Lebensempfehlung angesehen
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