Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
führen, wenn jemand vermeidet, zu seiner Leitungsrolle zu stehen und sie auszufüllen. Die meisten zwischenmenschlichen Situationen, besonders im beruflichen Bereich, verlangen nach einer «ordnenden Hand». Und es kann ein wahrer Segen sein, wenn jemand da ist, der über sie verfügt und sie auch einzusetzen wagt – sensibel die verschiedenen Interessen koordinierend und den Prozess entsprechend der Aufgabenstruktur steuernd. Die Rolle eines gut ausgebildeten Moderators wird erst allmählich in ihrer Bedeutung erkannt. Tagtäglich könnten Tausende von zähen Sitzungen, sterbenslangweiligen Konferenzen und chaotischen Versammlungen vitaler, effektiver und erfreulicher verlaufen.
Mit dem Bestimmen, Leiten, Einflussnehmen, Kontrollieren, Korrigieren und Intervenieren ist die eine Seite einer Wertepolarität angesprochen, die als besonders «westlich«gilt und auf der Gegenseite ein ausgleichendes Prinzip herausfordert, das im Geschehen- und Gewährenlassen besteht und eher als «östliche» Tugend angesehen wird. Verfolgen wir einige Varianten dieser grundlegenden Polarität in verschiedenen Lebensbereichen und halten wir dabei nach den Entwicklungsrichtungen Ausschau, die für den «Bestimmenden-Kontrollierenden» zur Integration der Gegensätze führen können. Ich bespreche zunächst Aspekte des zwischenmenschlichen Umgangs, später dann auch Aspekte des Umgangs mit sich selbst.
Nondirektive Gesprächsführung. Eine heilsame Kur für den Bestimmenden ist das Erlernen der nicht-direktiven Gesprächsführung nach Carl Rogers, die zur Grundausbildung des Psychologen gehört. Hier kommt es ausschließlich darauf an, dem Gesprächspartner auf seinen Spuren zu folgen, um ihm bei der Ausrichtung seines Kompasses behilflich zu sein und bei der Suche nach Lösungen zu unterstützen, die ihm entsprechen und wesensgemäß sind; eigene Ratschläge, ja sogar Strukturierungshilfen für die Weiterführung des Gespräches (etwa Fragen wie: «Hast du auch schon einmal daran … gedacht?») sind streng verpönt. Wer sich zum ersten Mal in dieser Art von Gesprächsführung versucht, merkt rasch, wie schwer es fällt, sich all jenes zu «verkneifen», was doch geeignet scheint, das Gespräch und die Problemlösung in die «richtige Bahn» zu lenken. Dass man seine Kinder, Ehepartner, Kollegen und Untergebene darin unterstützen kann, den ihnen gemäßen Weg zu finden und dass dadurch keine Katastrophen passieren – dies kann zu einer aufregenden Entdeckung und zu einer Wendemarke im eigenen Leben werden, wenn der Kontrollierende diese Gesprächsweise nicht nur als vorübergehend anzuwendende Technik, sondern als mögliche Qualität eines echten Kontaktes begreift. Und wie wäre es, wenn er sich auch selbst einmal so behandeln würde? Sich von den selbstgesetzten strengen Richtlinien lösen und stattdessen dem inneren Strom spontaner Impulse und Gedanken aussetzen würde?
Direktivität und Nondirektivität in Pädagogik, Therapie und Erwachsenenbildung. Die Polarität von Direktivität und Nondirektivität hat nicht nur für die Gesprächsführung, sondern allgemein für den Umgang mit Menschen eine große Bedeutung. Sehr deutlich zeigt sich dies in der Pädagogik . Bis in unsere jüngste Vergangenheit hinein und noch heute war und ist die Erziehung eine Domäne der bestimmenden Strömung, die sich hier in, wie wir jetzt ermessen können, unheilvoller Weise geradezu austobt. Die häufig gebrauchte Metapher vom Bildhauer, der aus Rohgestein eine Gestalt nach eigenen Vorstellungen formt, reicht nicht aus, um die Mentalität jener «schwarzen Pädagogik» zu kennzeichnen, wie sie zum Beispiel von Alice Miller (1980) nachgezeichnet wurde. Denn während das Rohmaterial des Bildhauers bloß ungeformt und gleichsam im Zustand der Unschuld erscheint, ist die schwarze Pädagogik eine entschlossene Kriegserklärung an die kindliche Seele, welche in ihrer kraftvollen Vitalität, ihrem Eigensinn und ihrer Gefühlsintensität als geradezu «teuflisch» empfunden wird, da sie den Erzieher in seinem zwanghaften Gleichgewicht bedroht. Es muss dann nicht bloß «geformt», sondern der kindliche Wille «gebrochen», seine Fehler «ausgemerzt» und seine Lebendigkeit mit «Zucht und Ordnung» diszipliniert werden.
Die so misshandelten Kinder sind die Peiniger von morgen. Da sie gezwungen waren, ihr inneres Wesen als böse zu empfinden und den strengen Gefängniswächter, der die zu «lebenslänglich» verurteilten Impulse in Schach hält, zu
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