Miteinander reden 2: Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung; Differentielle Psychologie der Kommunikation (German Edition)
lockerer werden!» – Mit diesen Worten kam mir, dem Universitätsassistenten, Anfang der siebziger Jahre eine Studentin auf dem Flur entgegen und öffnete mir, zu meiner Verblüffung, den zweitobersten Kragenknopf. Ebenso wenig «zugeknöpft» waren einige unserer Professoren. «Wer will, kann mich duzen», stand eines Morgens auf einem Zettel an der Tür meines Doktorvaters. Zuvor schon hatte die Studentenbewegung mit spektakulärer Respektlosigkeit «unter den Talaren den Muff von tausend Jahren» entdeckt und den ehrfurchtgebietenden Abstand zwischen Würdenträgern und Fußvolk drastisch verringert. Auch untereinander begannen sich die Studenten einiger Fachbereiche zu duzen. In den Stätten der Therapie und Selbsterfahrung konnte man lernen, seine Schüchternheit abzulegen, auf Menschen zuzugehen und im «Feel and touch» die alten Berührungsängste zu vermindern. Dass man jemanden «einfach so» umarmen konnte, ohne sich eines sexuellen Annäherungsversuches «schuldig» zu machen, war für viele ein ebenso sensationelles und befreiendes «Erlebnis» wie die Erfahrung, jemandem frank und frei seine Empfindungen zu sagen. «Feedback» und «Encounter» waren auch die Zauberworte, mit denen wir unsere ersten Seminare für Führungskräfte in der Industrie durchführten. Die Humanistische Psychologie, angetreten, die anthropologischen Reduzierungen der modernen Industriegesellschaft aufzuheben und den «ganzen» Menschen wieder aufleben zu lassen, war angesichts der «Schizoidierung der Gesellschaft» (Riemann, 1975) vorrangig eine Nähe-Bewegung gewesen.
Dies war und ist auch dann nötig und sinnvoll, wenn die gesellschaftlichen Ursachen für diesen Mangel an Geborgenheit und Kontakt damit nicht beseitigt sind. Die Öffnung des zweitobersten Kragenknopfes war mir Startimpuls für die Befreiung von allerlei Verklemmungen, und wie mir ging und geht es vielen Menschen, deren durch die Nebenwirkungen ihrer Sozialisation hervorgebrachte seelische Zwangsjacke sie daran hindert, dem Mitmenschen unbefangener entgegenzutreten. So sehr es also richtig ist, Stätten der Begegnung zu schaffen, wo emotionale Barrieren des zwischenmenschlichen Nahkontaktes therapeutisch bearbeitet werden können, so falsch kann es auf der anderen Seite sein, die dort (sinnvollerweise) praktizierten Formen des Umgangs auf andere Kontexte (zum Beispiel Berufswelt) einfach zu übertragen. Reserviertheit und Distanz, Zurückhaltung und Vorsicht im Ansprechen von Gefühlen und überhaupt der «Beziehungsebene» können dort durchaus dem Kriterium der «Stimmigkeit» (Schulz von Thun, 1981) entsprechen. Dies gilt vor allem dann, wenn die Beziehungen nicht oder nicht nur vom «freundschaftlichen Miteinander privater Personen», sondern auch von Gegnerschaft und Rivalität, Macht und Abhängigkeit geprägt sind.
Die Psychologin und Organisationsberaterin Karin v.d. Laan schreibt dazu [20] , bezugnehmend auf Kontakte mit Berufskollegen, die alle diese zweite Sozialisation der Emotionalität und Nähe durchlaufen haben:
«Das erste Mal in meinem Leben empfinde ich es als ‹gefährlich›, daß wir alle so sozial-fähig sind: Wir können schnell Kontakt herstellen, im Nu ist man beim ‹Du›, jeder kann jederzeit über seine Gefühle schwätzen und ‹sich einbringen›. Lauter ‹vertrauensbildende, näheschaffende Maßnahmen›, die ihre Wirkung tun. Aber zu Unrecht. Ich stelle fest, daß ich in diesen Kreisen ‹falsch programmiert› bin: Ich gehe von Freunden aus. Dabei sind die Beziehungen alle neutral, gefühlsoffen, jedoch in der Ausdrucksform überaus herzlich und direkt. Die wahre Beziehung ist nun schwieriger festzustellen. Man muß sehr genau hinhören. Im Grunde ist doppelte Vorsicht angebracht. Mißtrauens-Vorschuß oder Neutralitäts-Phase, die länger angesetzt werden muß, weil man dem rasch entstehenden Klima nicht trauen darf. Es hat keine Substanz, ist nicht durch Erfahrungen miteinander gewachsen. Wir sind schon fast vertraulich miteinander, bevor wir uns überhaupt kennengelernt haben.
Diese durchgeschulten Experten sind beziehungsmäßig verführerisch und daher gefährlich – falls von der Beziehung irgendetwas abhängt, falls man sich gegenseitig schaden kann, Interessenkonflikte da sind. Nach wie vor ist es sinnvoll, unterscheiden zu können zwischen Freunden und Feinden.»
Indem die Humanistische Psychologie die kontaktscheue Berührungsangst überwinden wollte, die für den distanzierten Menschen kennzeichnend ist,
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