Rebellen der Ewigkeit
Amanda Reisz fluchte. Es war ein Fehler gewesen, die Autobahn zu nehmen. Vor ihr stauten sich die Fahrzeuge auf vier Spuren im Feierabendverkehr. Nervös trommelte sie mit ihren Fingern auf dem Lenkrad. Die Schlange, in der sie gefangen saß, bewegte sich nur im Schritttempo voran. Sie musste das Lagerhaus unbedingt erreichen, bevor Ricardo zum Flughafen aufbrach. Ein Blick auf die rötlich blinkende Digitaluhr über dem Rückspiegel zeigte ihr, dass sie dafür noch etwa eine halbe Stunde Zeit hatte. Bei dieser Geschwindigkeit würde sie das nie schaffen.
Die nächste Ausfahrt lag ungefähr einen Kilometer vor ihr. Amanda setzte den Blinker und zwängte die Schnauze ihres kleinen Autos in den engen Zwischenraum, der sich in der Spur rechts von ihr aufgetan hatte. Ein wütendes Hupen ihrer Hinterleute war die Reaktion. Sie ließ sich davon nicht beeindrucken, sondern schob ihren Wagen Zentimeter um Zentimeter weiter in die Nachbarspur. Im Rückspiegel sah sie den Fahrer hinter sich wild gestikulieren. Weißes Hemd, Krawatte, Jackett in einer dicken Limousine – er sah aus wie ein Geschäftsmann, der nach einem anstrengenden Arbeitstag wohl einfach nur nach Hause wollte. Normalerweise hätte Amanda sich jetzt schuldig gefühlt und eine entsprechende Handbewegung gemacht.
Heute nicht.
Heute kannte sie nur das Ziel, so schnell wie möglich voranzukommen, ohne Rücksicht auf die Gefühle anderer.
Die Standspur rechts von ihr war frei. Sie überzeugte sich durch einen Blick in Seiten- und Rückspiegel, dass sich keine Polizei in der Nähe befand, und scherte aus ihrer Reihe aus. Erneut hupte ihr Hintermann, diesmal wohl aus Verärgerung darüber, selbst im Stau eingeschlossen zu sein, während die Rostlaube vor ihm jetzt freie Fahrt genoss.
Amanda drückte das Gaspedal durch. Besonders flott reagierte der alte Motor nicht, aber nach einigen Sekunden lautstarken Protestierens bequemte er sich doch, einen Gang zuzulegen. Sie ignorierte die vorwurfsvollen Blicke der Fahrer, an denen sie vorbeizog.
Eine knappe Minute später erreichte sie die Ausfahrt. Der Verkehr auf der Zubringerstraße floss ebenfalls dicht dahin, bewegte sich jedoch zumindest voran. Von Spur zu Spur wechselnd, zwang Amanda andere Fahrer mehr als einmal zu einem plötzlichen Bremsmanöver. Ein vielstimmiges Hupkonzert folgte ihr auf ihrem Weg.
Wie oft war sie diese Straße in den letzten Jahren gefahren? Sie kannte jede Tankstelle, jeden Supermarkt, jede Hamburgerbude, Pizzeria und Autowaschanlage, die alle gleich mehrfach die Straßenränder säumten. Oft hatten Ricardo und sie hier mitten in der Nacht einen schnellen Einkauf erledigt oder nach einem 18-Stunden-Arbeitstag die Löcher in ihren Mägen mit Junkfood gestopft.
Sollte das jetzt alles der Vergangenheit angehören? Amanda fürchtete, dass es nie wieder so sein würde wie vorher. Kein Last-Minute-Shopping mehr, keine flüchtigen Zärtlichkeiten über einer aufgewärmten Pizza, keine Vorfreude auf den kommenden Tag und die neuen Erkenntnisse, die sie bei ihrer Arbeit erwarteten. Aber noch wollte sie sich damit nicht abfinden. Sie war eine Kämpferin, war es immer gewesen. Mit nur einem Fehler: Sie wusste nicht, wann sie aufhören musste. Sie kämpfte auch dann noch, wenn längst klar war, dass es nichts mehr zu gewinnen gab. Das war im Kindergarten so gewesen, in der Schule und auch an der Universität.
Und jetzt? Hatte sie sich auch wieder in einen vergeblichen Kampf verrannt? War das eine dieser Situationen, in der sie jeden Blick für die Wirklichkeit verloren hatte?
Amanda wollte das nicht akzeptieren. Diesmal war sie bis zum Äußersten gegangen, weiter als je zuvor, um Ricardos Liebe zurückzugewinnen. Er war ein harter Brocken. Also hatte sie sich mit schweren Geschützen bewaffnet. Sie wagte nicht, daran zu denken, was sie machen sollte, wenn es nicht funktionierte.
Der Verkehr wurde dünner, je näher sie dem Industriegebiet kam, das ihr Ziel war. In dieser Gegend waren lediglich einzelne Lkws unterwegs, an denen sie sich geschickt vorbeischlängelte. Das Gebäude, vor dem Amanda ihr Auto mit quietschenden Reifen zum Stehen brachte, war ein für dieses Viertel typischer Flachbau von der Größe einer mittleren Turnhalle. Es lag in einer Sackgasse. Dahinter erstreckten sich Wiesen, allesamt bereits vermessen und parzelliert. Nicht mehr lange, dann würden hier weitere Hallen aus dem Boden wachsen, denn der Hunger der Unternehmen nach neuen Flächen war unersättlich.
Vor der
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