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Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge

Titel: Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hildesheimer
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mittelalterlichen Kirmessen mit Maibaum, Blutwurstbuden und
Ablaßkrämereien, zwischen denen die Fiedel, der Zinken und das Krumbholz dem
Volke zum Veitstanz aufspielten, während an den Stein- und Bretterwänden die
Besoffenen, die Krüppel und Aussätzigen sich wälzten, ihren Hirsebrei löffelten
und brüllend und lallend ihre fetten Almosen verspielten — das muß übrigens ein
ohrenbetäubender Lärm gewesen sein, so daß man sein eigenes Wort nicht mehr
verstand, aber damals gab es noch nicht so viele Wörter, und eigene schon ganz
und gar nicht. Ich finde es ja völlig gleichgültig, ob man sein eigenes Wort versteht
oder nicht, solange es der versteht, an den es gerichtet ist. Aber ich weiß,
daß viele anders darüber denken, was aber nicht hilft: sie werden ihr eigenes
Wort niemals verstehen.
    Weiter, zu den Jahrmärkten der
Eitelkeiten, wo so mancher oder so manche seine oder ihre Haut zu Markte trägt
— nicht zu reden von Darunterliegendem, obgleich auch das nicht uninteressant
ist — , bis zu den Jahrmärkten unserer Kindheit, mit Zuckerstangen,
Geisterbahnen, Plüschaffen, Krachmandeln, Gruselkabinetten und bärtigen Frauen.
Aber die sind nicht mehr zu erforschen, ich meine die Jahrmärkte, nicht die
bärtigen Frauen, aber die auch nicht, dann schon eher die Gruselkabinette und
ihre Variante, die Folterkammern. Es ist eben alles so lange her, lieber Max,
findest Du nicht? Und was nicht lange her ist, veraltet von einem Tag auf den
anderen, schneller als das längst Vergangene. Der Hormonhaushalt von gestern
ist die Familienplanung von heute und das Umweltproblem von morgen, falls es
dieses Morgen noch geben sollte. Wer zum Beispiel denkt heute noch an Günther
Sachs oder an Brigitte Bardot, an Thurn oder an Taxis, nicht zu reden von
Kaiserin Soraya oder den Weltraumfahrern, die man bekanntlich heute im
Druckgußverfahren aus Polyester herstellt — schon haben hochbegabte Schüler ein
Modell der Milchstraßensonde gebastelt und sind vom Weltwissenschaftsrat dafür
gebührend belobigt und mit einem zweiwöchigen Aufenthalt in Disneyland oder auf
den kanarischen Inseln belohnt worden. Was gestern noch Hintergedanke war, hat
heute Spruchreife, wenn nicht gar Druckreife erreicht und landet morgen beim
alten Eisen. Ich rate Dir daher, wie ich es getan habe, Dir gleich ein paar
Klafter davon anzuschaffen, am besten mit Rostfreiheit, für deren
Aufrechterhaltung der Schrotthändler geradezustehen hat. Achte darauf, daß es
nicht zu heiß ist. Überhaupt, »Eindeckern ist die Losung des Tages, wenn nicht
das Gebot der Stunde, »Eindeckern, und zwar mit Großem, wie etwa einer prallen
Immobilie, wie mit Kleinem, etwa ein paar Kurzwaren. Eine Kurzware hat schon
manche Lücke gefüllt, ich glaube, dazu ist sie auch da. Dennoch, es ist besser,
erst gar keine Lücke zu lassen, für die man vielleicht sogar noch zu büßen
hätte. Übrigens solltest Du Dir auch, für den Fall von Erdbebengefahr, die ja
bekanntlich an Aktualität gewinnt, bis sie schließlich von Erdbeben so
verdrängt sein wird, daß niemand mehr an sie denkt, eine Richterskala
anschaffen, die es — wie man sagt — preisgünstig zu kaufen gibt. Sieh zu, daß
sie nach oben offen ist. Überhaupt, von Dingen, die nach unten offen sind,
möchte ich Dir abraten.
     
    Wenn ich höre >offene
Formen<, was hier in meinem Gebirgsdorf sehr selten vorkommt, muß ich immer
an die bunten gerippten Blechformen denken, mit denen die Kinder an den
Stränden Sandkuchen backen oder vielmehr büken, wenn es noch Strände
gäbe. Manchmal denke ich aber auch an unseren großen toten Freund und an die
Ziegeleien seiner Kindheit, die lagen in Lebus — wird auf der zweiten Silbe
betont und nach der vierten Deklination dekliniert, nicht nach der zweiten
Deklination, also nicht Lebus, lebi, sondern Lebus, leboris usw. — an der Oder,
oder, genauer, zwischen der Oder und der Entweder, nicht aber, wie manche
meinen, zwischen der Weser und der Entweser, auch nicht zwischen der Oser und
der Weser, bekannt für ihre Renaissance, an der sich vor allem Heimatforscher
delektieren. Weser, nicht zu verwechseln mit Verweser, ist ja ein Beruf
geworden, Heidegger hat ihn geschaffen und als erster mit erklecklichem Erfolg
ausgeübt. Kein anstrengender Beruf übrigens, eher kontemplativ als lukrativ, in
Grenzen auch kreativ, vor allem aber tief. Nun, wie jemand einmal — vielleicht
auch mehrmals oder sogar immer — gesagt hat: man kann nicht alles haben.
Aber das ist wieder ein

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