Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge
eher unheimlich, aber dann werte
ich es kurzerhand als Symptom und lege es ad acta, wo schon so manches Symptom
liegt bzw. der Vergessenheit anheimfällt. Ich rate Dir, lieber Max, das gleiche
zu tun — ich meine natürlich das Ad-acta-Legen, nicht das
Vergessenheitanheimfallen —, falls Du es nicht schon tust und ich den Rat
überhaupt von Dir erhalten habe. Ich bin, Gott sei Dank, so vergeßlich
geworden.
Ich vergesse Geburtstage,
Stichtage, Bundestage, Namenstage, Kragenweite, Oberweite, Unterweite,
Schuhnummer und Blutgruppe, von der es, soweit ich weiß, nur drei gibt, außer
einer, die selten ist, wahrscheinlich inzwischen von Sammlern aufgekauft.
Manchmal vergesse ich auch Maß (ein Meter achtundsiebzig) und Ziel
(Vollkommenheit), aber in solchen Fällen kann ich meinen Nächsten fragen,
sofern er zur Stelle ist. Gerade in Fällen von Vergessen, Zweifeln oder
Dilemmata entfernt er sich gern, und da eine der drei Möglichkeiten immer der Fall ist, habe ich diesen Nächsten noch niemals zu Gesicht bekommen. Das
mag aber auch daran liegen, daß er genau weiß, wie ich ihn lieben würde,
nämlich wie mich selbst, und da das nicht eben viel ist, ist er wahrscheinlich
auf der Suche nach einem anderen, dessen Nächster er zu sein begehrt, einem,
der sich selbst mehr liebt, als ich mich liebe, der daher auch ihn als seinen
Nächsten entsprechend liebt, nämlich so wie sich selbst, oder gar nach einem,
der ihn noch mehr liebt als sich selbst, womit er sich aber wohl schwertun
dürfte, was ich ihm auch zu verstehen geben würde, wenn ich ihn jemals zu Gesicht
bekäme. Andrerseits will ich ihn nicht hindern, einen anderen zu suchen, da ich
dadurch einen anderen Nächsten bekäme, der vielleicht weniger Ansprüche an
meine Nächstenliebe stellen würde, was freilich noch nicht zu bedeuten hat, daß
dieser nun im Falle von Vergessen, Zweifeln oder Dilemmata zur Stelle wäre.
Dabei fällt mir ein: ich habe
auch ein Problem. Wie es auf mich kam, weiß ich nicht, wahrscheinlich hat es
sich allmählich gebildet, oder jemand hat es, während ich schlief, auf mich abgewälzt
— ich weiß wenig über Herkunft, Genese und Zusammensetzung von Problemen,
jedenfalls ist es schon länger her. Wie auch immer: mein Problem ist inzwischen
ziemlich groß geworden, ja, überlebensgroß (als ob das Leben nicht schon groß
genug und das Überleben überhaupt noch zu bewältigen wäre!). Es handelt sich,
wie Du Dir vorstellen kannst, um ein echtes Problem: mit Minderem würde
ich mich niemals abgeben. Es ist ein ziemlich kompliziertes Problem, und meine
Freunde, oder zumindest die wohlmeinenden unter ihnen, raten mir, es zu lösen.
Aber dazu kann ich mich nicht recht entschließen, ich habe mich an es gewöhnt.
Manchmal frage ich mich: was wäre ich ohne mein Problem, bleibe mir freilich
die Antwort schuldig. Gewiß aber wäre ich nicht derselbe, womit ich nicht etwa
sagen möchte, daß ich darauf bestehe, immer derselbe zu sein. Wenn Dich mein
Problem interessiert, lieber Max, was ich jedoch für wenig wahrscheinlich
halte, kann ich es Dir gern einmal leihweise überlassen. Oder hast du etwa ein
eigenes? Dann möchte ich Dich natürlich nicht zusätzlich belasten, denn ich
weiß, wie anstrengend und zeitraubend und enervierend so ein rechtes Problem
sein kann. Zudem glaube ich, aber da mag ich mich irren, daß Probleme so schwer
übertragbar sind wie Identitätskarten, Identitätskrisen oder hermetische Texte
oder Schwangerschaften oder Komplexe, Neurosen, Psychosen und Skabiosen, wobei
ich bei dem letzteren nicht sicher bin, ob es sich um eine psychische Störung,
ein Hautleiden oder einen Käfer handelt, in welch letzterem Falle sie natürlich doch übertragbar wäre, aber das ist in diesem Fall natürlich gleichgültig.
Ich bin sicher, Du verstehst, was ich meine.
... mein Problem ist inzwischen
ziemlich groß geworden, ja, überlebensgroß. (...) Es handelt sich, wie Du Dir
vorstellen kannst, um ein echtes Problem, mit Minderem würde ich mich niemals
abgeben. Es ist ein ziemlich kompliziertes Problem...
Eine Neurose habe ich natürlich
auch. Keine Zwangsneurose, sondern eine freiwillige. Sie ist verhältnismäßig
leicht zu züchten, beinah noch leichter als eine Rose, weil sie
wetterunabhängiger und jahreszeitlich ungebunden ist. Ein einziges Wunschtrauma
genügt schon als Ausgangspunkt. Verdränge es, und alsbald vollzieht sich alles
von selbst. Schon erwacht Deine Libido, frisch wie am ersten Tag, und
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