Mittelreich
gezwungen, ungewollt Pflege zu ertragen – wie eine Folter. Schlimmer könnte ihn das Schicksal nicht schlagen. Es hätte ihm das Ende seiner Intimsphäre gebracht, die ihm heilig war und bis ins Detail hinein sein Eigen.
Am andern Tag, dem Tag nach der Beerdigung des Seewirts, beginnt er sein Tagwerk wie immer. Es ist ein heißer Sommertag, und Viktor bezieht seinen Platz auf dem Betonsockel vor der Remise. Dort zupft er den Kartoffeln vom letzten Herbst die Triebe aus. Spatzen umlagern ihn, bis Mandi, der einäugige Kater, auftaucht und seinen Stammplatz auf des Viktors Schoß einfordert. Die Spatzen ziehen sich ins Laubwerk des Holunderstrauchs zurück. Auf dem Dachboden über der alten Remise erkunden drei Buben ihre knospende Sexualität. Bald durchschlagen zwei Kampfflugzeuge der heimischen Kriegsmacht im Tiefflug den heiteren, von Hitze flirrenden Mittag mit ihrem tödlichen Lärm und verscheuchen die friedliche Versammlung. Schließlich rufen die Mittagsglocken der Dorfkirche den alten Mann zum Stegdienst. Doch er kommt zu spät. Das große Schiff ist längst schon abgefahren. Die Nonnen haben zu spät geläutet. Der Sohn des toten Seewirts, Semi, tritt zu Viktor auf die Aufgangsveranda des Seewirtshauses und bespöttelt ihn wegen seines Versäumnisses. Viktor, den eine seltsame Pseudotaubheit befallen hat, die alle Lebensgeräusche verfälscht und eine große Mattheit auf seine Seele legt, geht in seine Kammer und besieht sich im Spiegel. Er erkennt pure Angst in seinen Augen und fürchtet sich vor tiefgreifenden Veränderungen in seinem Leben. Er legt sich auf sein Bett und fängt an zu reden, redet und redet.
Von heute aus besehen möchte ich fast sagen, ich habe Glück gehabt. Reich? Reich bin ich nicht geworden. Nee nee. Obwohl ich auch hab ein bisschen was auf die Seite legen können. Nur möchte ich da nicht von Reichtum sprechen. Vermögen ist das keines. Aber zum Wohlfahrtsamt! Nee nee. Das war nichts für mich. Da kriegten die mich nicht hin. Stempeln gehen! Gab kein Grund für. Und weißte, da hat deine Familie auch zu beigetragen, dass ich konnte wieder unabhängig werden. Die ham mich immer so behandelt, dass ich das Gefühl hatte haben können, dass sie auch einen Respekt haben vor mir. Dass ich nicht nur bin ihr Angestellter. Nie hat mich jemand geduzt. Und immer haben alle Herr zu mir gesagt. Herr Hanusch! Nicht einfach: Du! Oder Hanusch! Oder Viktus! Wie die andern, die Knechte. Alle haben noch nach zwanzig Jahren mich beim Namen genannt: Herr Hanusch. Und da hab ich auch Respekt haben können vor ihnen. Das war nicht nur Höflichkeit. Da war ein gewisser Anstand da, der ein Gefühl gemacht hat, ein gutes. Die waren gut erzogen, deine Leute, und das hat man gespürt. Da habe ich, wie da ist deine Mutter gestorben, da hat mich, weil ich da hab hinten gestanden, bei der Beerdigung, weiter hinten, nicht vorn am Grab, hat mich da dein Vater nach vorn geholt, in die Familie, vor allen Leuten, weil ich ja nun hab ihr in der Küche immer sehr unter die Arme gegriffen, seiner Frau, über zwanzig Jahre. Und da hat der mich nach vorn geholt! Und die haben das alle gesehen, die Leute. Und da waren viele da! Nicht nur ein paar. Das war eine große Beerdigung! Ich möchte sagen, das war ein historischer Tag für deine Mutter, so viel Leute wie da waren. Nun war die ja auch bekannt bei den Leuten, wegen der guten Kuchen, die sie hat gebacken. Aber nicht nur. Und da wurde ich nach vorne geholt. Von deinem Vater. Das ist was, das vergisst man nicht. Da musste ich immer wieder daran denken, wie der mich da hat nach vorn geholt. Weißte, ich glaube, so richtig angenommen bei der Bevölkerung waren die meisten von uns Flüchtlingen erst, als die Gastarbeiter sind gekommen, die Türken. Anfangs die Italiener und ein paar Griechen, danach ein paar Jugoslawen. Aber dann kamen da schon die Türken. Da waren dann die Flüchtlinge nicht mehr so schlecht angesehen, die wurden dann unauffälliger, möchte ich mal sagen. Die waren dann bereits drinne in der Gemeinschaft von die Deutschen, als die Gastarbeiter sind gekommen. Da waren die dann die Fremden. Da hat man als Flüchtling größere Probleme dann nicht mehr gehabt. Ich möchte mal so sagen: Gern gesehen waren wir nicht, die Flüchtlinge. Ein Minister, der hat damals gesagt: Engerling und Flüchtling sind Bayerns größte Schädling . Das war kein gutes Gefühl, als man den Spruch in der Zeitung hat gelesen. Da dachte man auf einmal wieder an die Zeit
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