Mittelreich
gar nicht recht verstehen können, was ich meine und was mich so bewegt. In ihm habe ich Dein langes, wahrscheinlich sogar von Anfang Deines Lebens an, Außenstehen wiedererkannt. Ich habe versucht, mir vorzustellen, wann es angefangen haben könnte, und habe mich erinnert an die Erzählungen der Mutter, in denen sie mir geschildert hat, wie sie, noch nicht lange verheiratet, von den beiden Schwestern des Vaters aus der Küche gewor fen worden ist mit den Worten: Du hast hier nichts verloren. Du bist von den Bauern und gehörst in den Stall hinaus! – Ich weiß nicht, ob sie Dich damals schon unter ihrem Herzen getragen hat, aber ich weiß, dass das keineswegs ein einmaliger Ausrutscher von Seiten der Schwestern, sondern eher an der Tagesordnung war.
Die Mutter wurde Anfang des Jahres 1946 schwanger, und ich bin sicher, sie hat sich sehr darüber gefreut. Vergällt allerdings muss ihr ihren Zustand der guten Hoffnung neben den verbalen Kränkungen und Demütigungen durch die Schwestern auch deren Anordnung haben, Mutter müsse den hässlichen blauen Schwangerschaftskittel tragen, der extra geschneidert wurde im Auftrag der Schwestern. Das war eine weitere Demütigung und ein Übergriff auf Mutters Persönlichkeitsrechte. So sehe ich das jedenfalls. Als Du dann geboren wurdest, war es eine schwere Geburt. Die Welterin war gekommen, um der Mutter beizustehen. Abends fuhr sie nach Kirchgrub heim und trug ihren Kindern auf: Betet’s für die Tante Theres, dass sie nicht stirbt. Sie ist wohl davon ausgegangen, dass Du und die Mutter die schwere Geburt nicht überleben würdet. Schließlich hat der Doktor Dich mit der Zange geholt. Der reine Horror, diese Vorstellung. Manchmal denke ich, die Mutter hätte Dich, ob der sie umgebenden widrigen Umstände, am liebsten bei sich im Bauch behalten.
Hier bricht der Brief ab. Vier handgeschriebene Seiten, nicht abgeschickt, eingelegt in eines von mehreren tagebuchartig geführten Notizbüchern, von Semi längst vergessen, und nun, unter dem Eindruck der vergangenen Nacht, wieder erinnert und nach Jahren aus einem Wäscheschrank hervorgekramt, kurz durchgesehen und dann auch gleich, völlig teilnahmslos, vernichtet: Ofentürl auf, Ofentürl zu.
Warum hat er den Brief geschrieben und wann?
Warum hat er ihn nicht an sich abgeschickt?
Ahnte er bereits, dass der Brief, der wohl als letzter und vielleicht sogar verzweifelter Versuch verstanden werden muss, sich selbst noch einmal zu rühren , sich eine Reaktion auf Geschichte, auf die eigene Geschichte abzuringen, die unmittelbarste Geschichte, die es gibt: die der eigenen Geburt und des kindlichen Aufwachsens, bevor Gesellschaft den alles bestimmenden Zugriff erhält – ahnte er, dass dieser Brief ihn eben doch nicht mehr erreichen würde, selbst wenn er ihn, wie nachträglich geschehen, erreichte, weil er einer Eingebung folgend den Wäscheschrank durchwühlte, in dem dieser von ihm längst vergessene Brief Jahre vorher von ihm abgelegt worden war?
Obwohl er der Welt, der er nach dem Tod seiner Frau nun endgültig feindlich gegenüberstand, nur noch reflexartig Tribut zollte, indem er beispielsweise um eine rein ästhetische Ordnung in und um sein Haus herum bemüht war, ärgerte den Seewirt die obsessiv zur Schau getragene Aggressivität seines Sohnes gegen diese Welt außerordentlich. Ein solch ablehnender und undankbarer Umgang mit dem Dasein stünde ihm in seinem Alter nicht zu, sagte er, laut vor sich hin murmelnd, zu sich selbst, das Leben habe keiner selbst erworben, es wurde einem nur geborgt von Gott und geschenkt von den Eltern. Dieser unumstößliche Umstand fordere Respekt und Demut gegenüber sich selbst und den Mitmenschen. Erst wenn im Alter Enttäuschungen zu ertragen seien, so wie es ihm selbst widerfuhr, dürfe der Mensch an der Welt zu zweifeln beginnen, um sich dadurch umso intensiver auf Gott und das ewige Leben mit ihm vorzubereiten. Denn in dem Maß, wie er sich von der Welt mit ihren Ver lockungen und Enttäuschungen abwende, begehre er Ewigkeit und fordere Einlass in sie. So etwa lauteten die Glaubenssätze des Seewirts, die er sich in langen Gesprächen mit dem Pfarrer und anderen Glaubensbrüdern und -schwestern angeeignet hatte. Aber dieser gesegnete Zustand, sozusagen das Verharren vor der Himmelspforte, bis der göttliche Wille sie öffnet und Zutritt gewährt, der ist nicht durch Geburt gegeben, auf den muss erst hingelebt, dieses am Ende ewig dauernde Privileg muss erst erworben und
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