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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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diesem Ereignis geboren, hatte ihm diesen Blick zurückgebracht.
    Im toten Kellerlochblick tat sich auch ein früherer Blick Semis auf, den der Seewirt genau gesehen und, sich selbst beruhigend und beschützend, wieder verdrängt hatte.
    Nach dem Ende der ersten großen Ferien hatte er den Kranz gebeten, mit seinem Auto und mit ihm zusammen Semi zurück ins Internat zu bringen, um dem Bub die umständliche und beschwerliche Zugfahrt zu ersparen. Der Kranz hatte sofort zugesagt, und so fuhren sie ein zweites Mal zu dritt den Weg ins Klosterinternat, den sie ein Jahr zuvor schon einmal gefahren waren.
    Nach dem Anhalten vor der Klosterpforte war Semi, der die ganze eineinhalbstündige Fahrt kein Wort gesprochen hatte, noch einen Moment lang sitzen geblieben und hatte dann gefragt, ob es keine andere Möglichkeit gäbe, eine Schule zu besuchen, als die in einem Kloster. Er wolle da nicht mehr hinein. Bitte! Vater!, hatte er gefleht, nimm mich wieder mit! Ich werde auch zu Hause fromm.
    Dieser lapidare Satz war begleitet vom toten Blick, der damals noch unverbraucht war, aber von einem dringlichen Ernst wie der Blick, den er Jahre zuvor in den Augen der im Küchenwagen gemordeten Kinder geerntet hatte. Alles Licht und Dunkel der Jahrhunderte liegen in so einem Blick. Ja!
    Dieser Satz drang damals förmlich ein in seinen Kopf. Aber nur für einen kurzen Moment. Er wusste nicht, woher er kam, er konnte ihn mit nichts in Verbindung bringen, und deshalb hatte er ihn gleich wieder verdrängt. Nie hätte er über einen so unsinnigen Satz auch nur eine Sekunde länger nachgedacht, dass in einem einzigen Blick Zuversicht und Verzweiflung der ganzen Menschheit ausgedrückt seien. Nie! So was kann in einem Opernlibretto auftauchen. Oder in einem Kunstlied. Gerade in Verbindung mit Rückert und Mahler konnte er es sich gut vorstellen. Erst recht bei Wagner. Aber für die Wirklichkeit waren solche Sprachbilder nicht zu gebrauchen. Dafür war der junge Seewirt damals zu sehr Realist. Also weg damit!
    Nun aber war alles wieder da. Alles.
    Und der Seewirt begriff, dass Kunst Leben ist.
    Und Leben Geschichte.
    Und Geschichte Menschheitsgeschichte.
     
    Was aber ist dann Glaube und Religion?, fragte er sich.
     
    Da überflutete ihn eine Welle grellen Lichts, heller als alles, was ihn bisher geblendet hatte, und drang in seine Augen ein wie durch ein Brennglas, in seine Brust wie Röntgenstrahlen, drang in sein Denken und sein Fühlen ein wie nie zuvor in sein Leben ..., und es überkam ihn eine Gewissheit, was Glaube ist und Religion und für ihn nie wieder sein wird: Verdrängung und Feigheit.
     
    Was für ein Unsinn, geboren zu sein, dachte er, nur ein ewiges Leben könnte dem Leben Sinn gegeben. Das meinten die Stifter mit dem Ewigen Leben . Die Verwalter von Glaube und Religion haben daraus einen sentimentalen Kitsch vom Überirdischen gebraut. Was für eine Gnade, das noch erkennen zu dürfen. WAS FÜR EIN UNENDLICHES GLÜCK !
     
    Langsam sackte sein Körper in sich zusammen, die Muskeln folgten reflexhaft den letzten Befehlen des gerade noch dominierenden Gehirns und leisteten nachlassenden Widerstand, bis der Körper des Seewirts weich gelandet war auf dem harten Pflaster des Hausgangs direkt vor der Schänke.
    Und doch war mir dieser Irrtum Wegzehrung. Was, wenn ich das noch lebend erkannt hätte? Ich wäre vermutlich auf der Stelle gestorben ...
    ... wie Zerberus hockt der da hinten am dunklen Tisch. Im Licht erst ist das Dunkel dunkel ...
    Sein Kopf blieb so lange hoch über seinen Körper gereckt, bis der in sich zusammengesunken war.
     
    In der Früh des nächsten Tages, es war ein Sonntag und eine gleißende Morgensonne sog den letzten Frühtau von den Wiesen, fand ihn die alte Kellnerin Loni. Am aufgehellten Ecktisch hockte immer noch Semi und hielt teilnahmslos Totenwache.
    Auch nur, weil der Zufall es so gewollt hatte.
     

     
    Die Beerdigung wurde zur Großen Leich. Die Trauergäste füllten die Kirche von Kirchgrub bis auf den letzten Platz. Die keinen mehr in ihr gefunden hatten, standen traubenförmig um den Haupteingang herum oder drängelten sich wie zu einem langgezogenen Presssack geformt die gesamte Terrassentreppe hinunter bis ans Friedhofstor. Der Pfarrer pries in langer Rede den festen Glauben des Verstorbenen, die Unverbrüchlichkeit dieses Glaubens und das Festhalten daran bis zum letzten Atemzug. Den hatte er zwar nicht mitgekriegt, aber er hätte den Seelenfrieden in des toten Seewirts Gesicht, das in

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