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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Entkommen möglich. Wenn er beim alljährlichen Abfischen seines großen Fischweihers in Senkendorf am Ende mit den langen Stiefeln, die ihm hinauf bis an die Hüften reichten, durch den Schlamm watete, um die restlichen, auf ihm liegen gebliebenen Fische einzusammeln, dann war dieses Waten im Schlamm vergleichbar dem Nachgrübeln seiner das Denken fliehenden Gedanken. Manchmal blieb er stecken im Schlamm und konnte sich nur mit Mühe wieder herausarbeiten. Und jedes Mal war er froh, wenn er den Rand des Weihers wieder erreicht hatte. Dann merkte er, dass Angst von ihm abfiel, die Angst, möglicherweise nicht mehr herauszukommen, eine Angst, die er im Schlamm gar nicht wahrgenommen hatte, die ihn danach erst befallen haben musste, als die Gefahr vorbei war, die er ignoriert hatte, um diesem Tagwerk überhaupt nachgehen zu können.
    Das fiel ihm jetzt ein, als auf einmal Licht drang in das modrige Gewölb, das sein Hirn war, vergessen schon vor Jahren und wo Geschehnisse verborgen lagen, die wieder griffig wurden durch den Streit. Als er in Semis Gesicht geschaut und ihm der Begriff vergessenes Kellerloch durch den Kopf gegangen war, als sein Sohn dieses Erinnere dich! wie einen militärischen Marschbefehl an die Front an ihn hingebellt hatte, da war dieses Gesicht ihm bekannt vorgekommen, dieses tote Kellerlochgesicht, irgendwo hatte er es schon einmal gesehen, ganz sicher, nur anders, nicht so hasserfüllt, eher bittend oder verzweifelt und weniger bedrohlich. Gerade hatte er für einen Augenblick lang Todesangst gespürt, als ihm unter Semis Blick das Blut in den Adern zu gefrieren schien. Dieser tote Kellerlochblick aus der Erinnerung aber war hilflos gewesen, nicht bedrohlich, in dem war Angst, aber keine Panik mehr, die diffuse Angst schien schon geläutert und Wissen geworden zu sein. Sie hatte sich schon ergeben.
    Dem Seewirt fiel der Kranz ein, der alte Kriegskamerad, den er schon vergessen hatte. Nicht nur weil der seit Jahren tot war, sondern weil sich in den Jahren davor schon aufgelöst hatte, was ihnen mal als unauflöslich erschienen war: die kriegsgeformte Kameradschaft untereinander. Lang hatte sie beide das gemeinsam Erlebte wie ein Geheimnis zusammengehalten, hatte ihnen Schutz gegeben und Vertrautheit. Dann aber kam ihnen die Familie dazwischen: Frau und Kinder. Die Prioritäten der Freundschaft weichten auf und verscho ben sich, auf Geringeres hin vielleicht, dachte der Seewirt, mag sein, aber unaufhaltsam, ohne Zweifel. Und so war der Kranz allmählich verschwunden aus der allabendlichen Recherche des Seewirts, welche Gedanken des Tages es wert waren, noch einmal bedacht zu werden, und welche nicht. Nach und nach verlor der Kriegskamerad seine frühere Nachhaltigkeit beim Ordnen dieser Gedanken. Umgekehrt, so hoffte der Seewirt, wirkte das Gleiche in einer organischen, vom Panier der Freundschaft ausgehenden Parallelität auch beim Kranz. So plagte ihn kein schlechtes Gewissen wegen seiner erkaltenden Gefühle für den ehemaligen Kriegskameraden.
    Jetzt aber tauchte das Gesicht des Kranz auf einmal wieder auf, vielmehr: dessen Augen; im Rückspiegel eines Militärlastwagens von der Rückbank aus gesehen. Der Seewirt schaute stier in den sich spiegelnden Blick des Kranz, weil er seinen Blick von der Windschutzscheibe weghalten wollte, hinter der ihn die kurvenreiche, dicht von Alleebäumen gesäumte Straße schwindlig machte, die der Kranz mit durchgetretenem Gaspedal durchfuhr wie ein vom Wahnsinn Befallener. Der Seewirt würgte an einer Übelkeit, wollte sich aber keine Blöße geben vor dem Kranz und dem Offizier der SS , der neben dem Kranz vor dem Seewirt auf dem Beifahrersitz saß und das Fahren mit Vollgas befohlen hatte. Wie damals stieg auch jetzt Übelkeit in ihm auf, virtuell sozusagen, ausgelöst diesmal von der Erinnerung, die wie Sonnenlicht durch den sich auflösenden Morgennebel hindurch in sein Gedächtnis drang. Denn mit der Übelkeit schob sich wieder dieser Blick voll Dringlichkeit und tödlichem Ernst vor den konzentrierten Autofahrerblick des Kranz im Rückspiegel und bekam ein Gesicht: das Kindergesicht einer ganzen Schulklasse, die sich als ablebende Fracht im luftdicht verschlossenen Laderaum des Lastwagens befand. Und da fiel dem Seewirt alles wieder ein.
    Sie befanden sich bereits auf dem Rückzug. Der Krieg in den Weiten Russlands war verloren. Noch wurde das offiziell nicht zugegeben. Die Propaganda arbeitete weiter mit den bekannten Parolen vom baldigen Sieg über den

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