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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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verdient werden: durch Bejahung des Lebens und einer ihm freudigen Zugewandtheit. So der Seewirt in seinen Selbstgesprächen.
    Das Leben in jungen Jahren mit offenen Armen in Empfang zu nehmen und sich seiner Gemeinschaftlichkeit, die durch die Existenz anderer gegeben ist, lustvoll hinzugeben, dieser Verpflichtung schien sein Sohn geradezu mit Infamie zu spotten.
    Der hatte seine Ausbildung zum Sänger schon nach wenigen Jahren wieder aufgegeben und half nun im Seewirtshaus mit, um dem altmodischen Betrieb einen frischen, zeitgemäßen Anstrich zu geben, wie er sagte. Immer häufiger aber saß er alleine an einem lichtfernen Tisch im Eingangsbereich des Wirtshauses und schüttete langsam, aber stetig Bier und Schnaps in sich hinein.
    Der Seewirt hatte sich an einem Samstagabend um die Jahresmitte, als die letzten Gäste gegangen waren, zu ihm gesetzt und ihn gefragt, ob er nicht am nächsten Tag wieder einmal zur Sonntagsmesse in die Kirche mitkommen wolle, wo er ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Nach der Messe könne er mit dem Pfarrer reden. Er, der Seewirt, würde gerne ein Gespräch vermitteln, und der Herr Pfarrer würde ihm vielleicht einen Ausweg aus seinem momentanen Seelenleid zeigen können. Denn dass ihn etwas beschwere, das könne er gut und schon seit Längerem erkennen, sagte der Seewirt zu seinem Sohn. Er möge doch wieder zurückkommen in den Schoß der Kirche, die ihren Trost für ihn bereithalte, wie für alle anderen auch.
    Semi war aufgestanden und hatte seinen Vater angeschaut, mit einem langen und durchbohrenden Blick voll Verachtung und Geringschätzung, so dass dem Seewirt für einen Augenblick schier das Blut in den Adern gefror, und hatte dann, als des Seewirts Augen flüchtig wurden und diesem Blick auszuweichen versuchten, gesagt: In den Schoß der Kirche? Zurück? In die Kirche? Die Kirche hat keinen Schoß, alter Mann! Die hat da nur Erektionen von stinkendem Fleisch! Wenn ich in einen Schoß zurückkehren würde, dann in den der Mutter, auf dass ich von ihr im Nachhinein abgetrieben würde, um nicht geboren worden zu sein. Verstehst du das? Das könnte ich mir unter Zurück-in-einen-Schoß vorstellen. Aber das geht nicht mehr, denn sie ist tot. Aber ich würde eine solche Nähe zu ihr auch gar nicht mehr ertragen. Denn meine Mutter hat mir nicht geholfen, als ich Hilfe gebraucht habe. Erinnerst du dich? Genauso wenig wie du! Erinnerst du dich?! Und dafür sollt ihr verflucht sein! Beide! Geh du nur hinein in diesen Kirchenschoß, denn der ist was für alte Leute, die bald sterben. Also für dich. Für junge Leute ist der nichts. Jungen Leuten predigt der Pfaffe: Die Kirche bin ich. Steckt euch die Kirche ruhig in den Arsch, dann hab ich was davon. Erinnere dich! Oder warst du schon immer taub und blind?
    Damit ließ er den Seewirt stehen und ging zur Schänke, mit grauem Gesicht, finster und tot wie ein vergessenes Kellerloch. Aus einer Steinhägerflasche füllte er bis an den Rand Schnaps in ein Wasserglas und trank es aus.
    Den Seewirt trafen diese Worte in seinem Innern wie Peitschenhiebe ins Gesicht. Ihren Sinn verstand er nicht, er fühlte nur ihre Eindeutigkeit. Aber er fühlte eine andere Eindeu tigkeit als die, die Semi ihnen gab. Vater und Sohn waren zu unterschiedlichen Zeiten unter unterschiedlichen Lebensumständen unterschiedlichen Erfahrungen ausgesetzt gewesen. Jeder nahm die eigenen zum Maßstab. So waren die Worte vom Sohn zum Vater, sowohl in ihrem Ausdruck wie auch in ihrer Empfänglichkeit, der Mehrdeutigkeit beraubt, die auch ihnen eigen gewesen wäre, wie jedem Wort. Drum hörte der Seewirt nur schlimmsten Hass und Verachtung aus ihnen, mit denen sein Sohn sich aufs Verwerflichste gegen die heilige Kirche und das vierte Gebot versündigte. Er entnahm ihnen nur die Infamie des gestürzten Engels gegen die göttliche Ordnung. Er hörte nicht die unheilbare Verletzung heraus, die aus ihnen sprach und die ihnen zwar noch eine prätentiöse Form zu geben vermochte, aber keinen brauchbaren Inhalt mehr. Die Lebenswürde war seinem Sohn genommen. Das konnte er zweifellos erkennen. Was von ihm über geblieben war, war eine Art Vegetationsorgan. Aber was meinte er mit: Erinnere dich!
     
    Erinnere dich?
    Allmählich kam Bewegung in des Seewirts Hirn. Sein Denken ordnete sich. Im Kopf wurde es langsam hell. Aus jahrelangem dumpfem Grübeln über Gedanken, die kamen und wieder entglitten, kaum dass er sich ihrer angenommen hatte, schien jetzt plötzlich ein

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