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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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Brief.
     
    Mein lieber Bruder!
    Zuallererst will ich Dich bitten, nicht zu erschrecken darüber, dass ich Dir heute einen Brief schreibe. Es ist nichts passiert und keine Katastrophe steht ins Haus. Es ist vielmehr so, dass ich, da mir die Courage fehlt, mit Dir darüber zu sprechen, hiermit den Versuch unternehme, etwas auszudrücken, was mir auf der Seele brennt, was ich Dir jedoch in einem Gespräch nicht so umfassend würde mitteilen können, da wir zum einen in der Familie nie gelernt haben, positive Gefühle auch verbal auszudrücken, und zum anderen fürchte ich, mich im Gespräch in den Fallstricken von Vorwürfen, Schuldzuweisungen und Rechtfertigungen zu verfangen, was in unseren Gesprächen ja häufig geschieht. Und eben das will ich vermeiden. Ich schreibe Dir, weil mir eine scheinbar unbedeutende Begebenheit nicht aus dem Kopf gehen will.
    In der Sylvesternacht war ich mit einer ganzen Menge von Leuten auf der großen Brücke. Ich war übrigens der einzige alteingesessene Einheimische, zu denen ich mich immer noch zähle, wenngleich die nicht ganz so Alteingesessenen zum Teil auch schon zeit ihres Lebens – und das sind bei einigen von ihnen gut 50 Jahre – hier wohnen. Du weißt, was ich meine, und kennst sicher auch das Gefühl, zu denen nicht zu gehören, vielleicht gar nicht gehören zu wollen, wie ich aber auch das Gefühl habe, zu den wirklich Alteingesessenen auch nicht (mehr?) ganz zu gehören.
    Jedenfalls bin ich, nachdem die Sylvesterknallerei zu Ende war, durch den Garten zum Haus gegangen. Wenn ich mich recht erinnere, wollte ich einen Hammer zurücktragen, mit dem ich einige Feuerwerkssonnen am kleinen Steg angenagelt hatte. Während ich die Straße überquerte, sah ich einen dunkel gekleideten Mann am Straßenrand vor der Hecke des Seeufers zwischen der großen Brücke und dem danebenliegenden Ufergrundstück stehen, der sich, ganz offensichtlich, aus der Entfernung das muntere Treiben auf der Brücke ansehen wollte. Ich glaubte, in dieser Gestalt Dich zu erkennen, und mit dem Erkennen – oder besser: zu erkennen Glauben, denn ich bin ja nicht sicher, ob Du es gewesen bist – erschrak ich. Verzeih, es klingt so wenig liebevoll, aber ich will ehrlich sein und Dir meine Gefühle offenlegen, und ebendeshalb darf ich das Erschrecken nicht unter den Tisch fallen lassen. Ich erschrak deshalb, weil ich, in dem Moment und eben in diesem Bild, der großen Einsamkeit und der tiefen Sehnsucht gewahr wurde, mit der, so empfand ich es, dieser Mann, Du?, zum fröhlich feiernden Völkchen hinübersah, als wäre er gerne dabei, fände aber alleine nicht den Mut und die Kraft, deren es bedurft hätte, um sich, als offensichtlich Außenstehender, unter die als Gemeinschaft erscheinende Menge zu mischen, um im Erlebnis des Dazugehörens das schmerzliche Gefühl des Ausgeschlossenseins überwinden zu können. Dies empfindend und begreifend, regte sich in mir das Bedürfnis, Hilfe zu leisten und Dich, da ich ja glaubte, Dich in diesem einsam Außenstehenden erkannt zu haben, an der Hand zu nehmen und mit Dir zusammen in die Gemeinschaft der Feiernden zu gehen. Weil jedoch mit dem Wunsch, zu helfen, auch das Gefühl, helfen zu müssen – als Pflicht des Alter Ego dem Original gegenüber sozusagen –, aufkam und mir bewusst war, dass meine Hilfe unter dem Diktat des Pflichtbewusstseins keine von Herzen kommende freiwillige und somit wahrhaft ehrliche Hilfe sein würde, traute ich mich nicht, zu Dir hinzugehen. Zudem mutmaßte ich, Du, vorausgesetzt, Du seiest der an der Hecke stehende Mann gewesen, würdest auch mit mir zusammen nicht zu dem Brückenvolk gehen wollen. Und ich, gefangen im Wissen um mein gespaltenes Bewusstsein, würde mich dann verpflichtet fühlen, Dich nicht alleine lassen zu dürfen. Dazu kam auch noch mein Unvermögen, solche immer wiederkehrenden inneren Konflikte auszusprechen und damit aufzulösen oder wenigstens durch das Offenlegen des inneren zerrissenen Seins zu zeigen, dass es mir eben nicht gleichgültig ist, wie wir zueinander stehen, dass Du mir eben nicht gleichgültig bist und dass ich elendiglich darunter leide, mit ansehen zu müssen, wie Du alleine da stehst, während ich in einer Gemeinschaft stehe, zu der ich mich auch nicht wirklich zugehörig fühle.
    Wenn Du dieser am Straßenrand vor der Hecke zwischen großem Steg und Nachbarufer stehende Mann, dessen einsames Dastehen in mir solch widerstreitende Gefühle ausgelöst hat, nicht gewesen bist, wirst Du vielleicht

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