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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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den letzten Jahren gehetzt wirkte, flackernd und unruhig, wie auf der Suche nach einem Ausweg, und jetzt die Entspanntheit darin und den pfiffigen Zug um Mund und Augen, der der Feierlichkeit des Todes noch eine letzte Aufsässigkeit entgegengehalten hatte, ganz sicher auch gedeutet als zugehörig zum Glauben bis zum letzten Atemzug.
    Der Bürgermeister lobte das uneingeschränkte Bekenntnis zu Gemeinde und Gemeinschaft, das in den acht Jahren selbstloser Amtsausübung als Gemeinderat seinen Höhepunkt gefunden hatte, wie er sagte. Der sozialchristliche Gewerkschaftler und Vorsteher des Veteranen- und Kriegervereins, Ansgar Stichel, pries die kritische Haltung des Verstorbenen gegenüber dem Pflichtwehrdienst für die bäuerliche Nachkommenschaft: Ein Militarist warst du nie, lieber Pankraz, aber dem blinden, modernen, linksliberalistischen Antimilitarismus unserer städtischen Jugend und ihrer Einsager und Vorturner aus der sowjetisch gegängelten Zone im Osten, dem bist du nie, aber schon wirklich nie aufgesessen. Das Wort modern sprach er mit spöttischem Pathos, und die Worte Einsager und Vorturner betonte er breit und nachhaltig und schaute dabei vom Spickzettel auf, als ob er sie gerade erfunden hätte, aus dem Stegreif sozusagen, was ihnen eine besondere Bedeutung gab und einen alten Veteran in die Erkenntnis hineinmanövrierte: Reden kann er, der Stichel, das muss man ihm lassen.
    Ein Vertreter des Kirchenrates kam zum Zug, genauso wie der Leiter des Kirchenchors, der Vorstand des Hotel- und Gaststättenverbands und der Vorstand des Zweckverbandes der Milchviehhalter. Und alle, die dem Seewirt mit warmen Worten ihr letztes Geleit gaben, beendeten ihre Rede mit einem festen: Ruhe in Frieden!
    Nach zwei Stunden, als alle gemeinsamen und persönlichen Rituale beendet waren und auch die Letzten in der Schlange der Anstehenden eine kleine Schaufel voll Erde samt einem gemurmelten RUHEINFRIEDEN auf den Sarg in zwei Metern Tiefe hatten hinunterrieseln lassen, löste sich die Trauergemeinde langsam auf und machte sich auf den Weg zum Leichenschmaus hinunter nach Seedorf.
     
    Für die Totenmesse – die vom Kirchenchor mit dem langen Brahmsrequiem ausgestaltet und auf eine Länge von mehr als einer Stunde gedehnt worden war – hatte der Viktor nur mehr einen Stehplatz im kleinen Vorhäuschen vor dem Haupteingang gefunden. Er war während der Grablegung des Seewirts im Geschiebe und Gedränge zwischen den eng stehenden Gräbern nach und nach an der Dienstbotengrabstätte des Seewirtshauses mit der Alten Mare und dem Alten Sepp drin gelandet, die gut zwanzig Meter vom Seewirtsfamiliengrab entfernt in ein kleines Steinviereck eingelassen war. Dort blieb er, weil er sich im Gedränge wie zufällig an den halbhohen Grabstein neben dem eisernen Kreuz hatte hinlehnen können, schließlich auch die ganze restliche Beerdigung über, denn nur so – angelehnt an den Grabstein und halb auf ihm sitzend – war es ihm möglich, die für ihn enorme Anstrengung der nochmals eine Stunde dauernden Grablegungszeremonie ohne Schwächeanfall zu überstehen. Dort hatte ihn der nicht mehr junge, aber immer noch ungehemmt vorlaute Neffe der verstorbenen Seewirtin sitzen sehen und gesagt: Viktor, du hängst ja schon mit einer Arschbacke im Grab! Worauf der Viktor mit steinernem Gesicht geantwortet haben soll: Das tue ich, seit ich auf der Welt bin.
    Viktor wurde bei dieser Antwort mit einem Mal bewusst, dass mit dem Seewirt sein letzter Mentor die gemeinsame Lebenswallstatt verlassen hatte. Um ihn herum würden in Zukunft nur mehr alte Frauen und junge Leute sein: Die noch lebenden Schwestern des Seewirts und der immer seltsamer werdende Sohn mit seinem fragwürdigen Freundeskreis aus überständigen Kommunisten und arbeitslosen Wurzendarstellern. Was geschieht, wenn ihm ein Missgeschick passiert und er zum Pflegefall verkommt? Konnte und durfte er in einem solchen Fall Zeitaufwand und Zuwendung verlangen von Leuten, die nicht seine Familie waren?
    Der Gedanke schon versetzte ihn in Panik. Ein nicht mehr von ihm selbst verwaltetes Siechtum würde ihn in den Selbstmord treiben. Das wäre zwar eine Option, dachte er, und keine schlechte. Damit hätte er kein moralisches Problem. Religiös war er nicht, so dass ihn auch kein Glaube davon abhielte, wie das vielleicht bei der Seewirtin der Fall gewesen war. Doch was wäre, wenn eine Lähmung oder ein geschwächtes Hirn ihn daran hindern würden, seinem freien Willen nachzugehen? Dann wäre er

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