Mittelreich
die Seewirtin schon sagte: Auch in den Zeitungen war darüber viel gestanden. Den Kindern fehlten manchmal ganze Körperteile. Andere hatten nur zwei Finger oder mehr als fünf oder einen Zeh zu viel. Da könnte das beim Fräulein Zwittau schon auch so was gewesen sein. Wenn man sich das richtig überlegt! Dann wäre da was an dem Fräulein dran gewesen, was gar nicht hingehörte. Ein großes Frauendrama wäre das gewesen, wenn man es genau bedenkt, ein Verhängnis schon seit der Geburt und deshalb ohne Schuld.
Das hätte sie doch selber gar nicht in die Wege leiten kön nen, wenn sie noch ein Kind war, damals, so eine Operation? Die hat an so was doch gar nicht gedacht. Und wer weiß, vielleicht hat sie es nicht einmal gemerkt, als Kind, wer weiß? Kinder wissen das ja oft noch nicht, wenn sie noch so klein sind, dass da was nicht stimmt. So die Hertha.
Aber die Eltern! Die Eltern!, ereiferte sich laut die Seewirtin. Die Eltern hätten doch was machen müssen!
Du redest dich aber leicht, schimpfte die Brieftaube. Die Eltern haben ja vielleicht auch noch nicht gewusst, ob das jetzt ein Bub sein soll oder ein Mädl, wenn das noch so klein ist. Hätte ja ein Bub auch werden können. Das weiß man ja gar nicht so früh oft. Und später war’s dann vielleicht schon wieder zu spät. Vielleicht darf man dann gar nichts mehr wegschneiden, und es wäre zu gefährlich. Die Eltern waren schließlich feine Leute, die haben bestimmt gewusst, was man da machen muss, und waren so ... so ... no, wie soll ich sagen? ... so, also haben sich so verhalten, wie es sich gehört, ja: verantwortungsvoll, so sagt man. Bestimmt.
Du willst halt immer alles besser wissen, du Besserwisserin! Du bist nur neidisch, weil du selber keine Kinder hast, das ist es, heulte die Seewirtin nervenschwach los und lief zur Tür hinaus, davon in Richtung Kuhstall.
Jetzt lauf doch nicht immer gleich weg, rief ihr der Seewirt nach, darüber kann man doch in Ruhe reden. Wir können ja sowieso alle nichts dafür. Jetzt komm doch wieder her!
Aber es half nichts. Die Seewirtin blieb weg. Sie hatte sich im Stall in die frische Einstreu vor ihre Lieblingskuh niedergehockt und kraulte der den Nacken. Diese kleine Mulde vor dem Fressbarren war ihre Fluchtburg, wenn ihr inneres Gleichgewicht ins Rutschen kam. Hier war Wärme und Nähe, und das Tier gab ihr Vertrauen und das Gefühl einer widerspruchslosen Übereinstimmung. Das fehlte ihr, seit die Kinder aus dem Haus waren. Sie fühlte sich als Gegenstand, den man hin und her schob und dem zu wenig Achtung entgegengebracht wurde. Sie war dem nicht mehr gewachsen. In der Nacht, in der der Sturm das Dach vom Haus gerissen hatte und der Seewirt sich eine gefährliche Hilflosigkeit leistete, war es wie ein Ruck durch sie gegangen, und sie hatte sich daran aufgerichtet und ihre Position eingenommen. Von da an war sie die weibliche Autorität im Haus. Aber als die Kinder weg waren, war plötzlich alles Selbstbewusste in ihr wieder in sich zusammengesunken. Sie hatte die zehrende Sehnsucht nach den abwesenden Kindern in sich eingesponnen und sich verpuppt in Arbeit. Eine umfassendere Verständigung mit ihr war nicht mehr möglich. Nur das Alltägliche und Nötigste ließ sie im Gespräch noch zu. Ansonsten schwieg sie.
In den letzten paar Jahren war sowieso immer mehr Arbeit an ihr hängengeblieben. Die Dienstboten hatten alle das Haus verlassen. Die Mädchen hatten geheiratet oder andere Stellungen angenommen, in denen sie an den Wochenenden freihatten. Die Knechte waren an die Fabriken verloren gegangen. Nur der Viktor war geblieben. Aber eine richtige Hilfe war auch der nicht. Und zu allem Überdruss begann der Seewirt immer häufiger über schmerzende Bandscheiben zu klagen. Nachts fand er oft stundenlang keinen Schlaf, weil der Schmerz ihn wach hielt, und redete dafür auf die Frau ein, schüttete alle seine unzufriedenen Gedanken über sie aus, die doch müde war und schlafen wollte. Am Tag unterbrach er immer öfter seine Arbeit, und sie musste einspringen und auch noch sein Tagwerk mit erledigen.
Die Seewirtin war schwer überarbeitet. Deshalb war sie nervlich oft ziemlich schnell abgewirtschaftet, wenn die sturen Schwägerinnen ihr widersprachen und dabei noch triumphierten.
Dem Viktor, der da mittendrin sitzen musste, in der doch letztlich immer fremd bleibenden fremden Familie, dem wa ren solche Kämpfe peinlich, und im Moment wusste er auch wieder mal nicht so genau, wie er reagieren sollte. Jedenfalls
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