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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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miteinander draußen auf dem Hausgang. Dann verlangte mal der eine, dann wieder der andere zu telefonieren. Man möge aber während des Telefonats gefälligst den Telefonraum nicht frequentieren – dieses Wort benutzte der Seetaler (der Kramer sagte: Dass ja keiner hereinkommt!) –, denn noch sei nichts bewiesen und unhaltbare Gerüchte würden der Aufklärung dieses diffizilen Falles nur schaden.
    Nach und nach aber ließ sich dann doch der Seetaler vom Drängen des Seewirts nach umfangreicherer Auskunft zur Sache erweichen und rückte mit dem Hinweis auf die äußerste Vertraulichkeit des Inhalts eine Information nach der anderen heraus, weil er wusste, dass der Seewirt vor kurzem Mitglied des Kirchgruber Gemeinderats geworden war und als solcher zuständig für außerordentliche Geschehen und darum des amtlichen Vertrauens hundert Prozent wert. So bildete sich, anhand der Weitergabe der polizeilichen Informationen durch den Gendarm Seetaler an den um Teilhabe bemühten Seewirt, vor dessen geistigem Auge langsam ein Bild heraus, das sich schließlich – aus der frischen Erzählung über das beinahe vergewaltigte Mädchen, dem aktuellen Verschwinden des Fräuleins und der sich dabei in des Seewirts Kopf abspulenden Rückschau und den darin immer auffälliger werdenden Seltsamkeiten in Zusammenhang mit dem Fräulein – zu einem logischen Ganzen zusammenfügte. Und dieses so entstandene Bild formte in des Seewirts Kopf eine für ihn nun unumstößliche Erkenntnis.
    Eines Tages dann, beim gemeinsamen Mittagessen, machte er, nach reiflicher Überlegung, dem tagelang herrschenden betretenen Schweigen im Haus ein Ende: Juden und Sozis gibt’s auch. Warum soll’s also so was nicht geben?, schlussfolgerte er und weckte damit auf der Stelle die seit Tagen ruhende Gesprächsbereitschaft unter den Bewohnern.
    – Geh, das ist doch ganz was anderes, ärgerte sich sofort die Brieftaube über die Gleichmacherei ihres Bruders. Das mit den Juden ist eine irregeleitete Religion. Die haben einen schlechten Charakter. Die haben unseren Herrgott ans Kreuz geschlagen, obwohl er einer der Ihren war. Und die Sozis sind Neider. Die vergönnen den anderen nichts. Aber das mit dem Fräulein Zwittau, das ist doch ... wie soll ich sagen? ... das ist ... das ist doch was ganz was anderes, das ist was ... ja! ... was mit der Natur, so ein Versehen ... oder ... ein Irrtum, ein Irrtum in der Natur ist das. Das hat doch mit dem Charakter nichts zu tun. Da kann eines gar nichts dafür, wenn es so was hat.
    Das reizte die Frau des Seewirts, ihrem Mann beizuspringen: Ja, aber schön ist es auch nicht, sagte sie, das muss ich jetzt schon auch mal sagen. Also ich hätte dem Fräulein Zwittau so was nicht zugetraut. Und immerhin hat sie fast vier Jahre lang auf die Kinder aufgepasst. Mit so was! Da hätte ja weiß Gott was sein können. Wenn die Kinder da was gesehen hätten! Die sind ganze Nachmittage da oben am Waldrand gesessen und haben Picknick gemacht! Wo geht so eines denn hin, wenn es mal wohin muss? An den nächsten Baum halt, wie jedes Mannsbild. Und gleich daneben sitzen die Kinder! Nein, nein. Mir gehst! Das ist alles andere als anständig.
    Jetzt entdeckte die Hertha eine Möglichkeit, um wiederum dem toten Fräulein beizustehen, und zwar eine ganz neue, eine sozusagen aktuelle: Ja was hätte sie denn machen sollen?, fragte sie, kannst du mir das sagen? Weil ... also denk doch mal! ... wenn das jetzt auch so was wie mit dem Contergan gewesen ist, da hätte sie ja gar nichts dagegen tun können! Überleg doch mal! Vielleicht hat es das ja früher auch schon mal gegeben, das mit dem Contergan? Warum denn eigentlich nicht? Dann wär das Fräulein Zwittau aber ganz unschuldig an dem! Weil dann kann sie eben gar nichts dafür. Dann wäre sie so unschuldig, wie ... wie die anderen Contergankinder auch.
    Schon. Aber da haben sie ja auch danach welche operiert von denen, wenn die einen Finger oder einen Zeh zu viel dran gehabt haben, wusste die Seewirtin, das ist so im Merkur gestanden, und dann muss es doch stimmen. Warum hat er sich denn dann nicht auch operieren lassen, der Fräulein Zwittau, wenn er schon so was hat?
    Das regte jetzt die anderen am Tisch zum Denken an. Schließlich kannten alle die Frau Lindner von der Birkenbreite oben, die grad vor einem Jahr erst so ein Kind geboren hat: die Hände ohne Arme an den Schultern angewachsen, fast wie kleine Flügel. Wie ein kleines Englein sah es aus, das Kind von der Frau Lindner. Und wie

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