Mittelreich
anderes, schweres Menschenschicksal zuvor schon im Innersten tief erschütterte Kind durchfuhr bei diesem Anblick eine zweite, noch heftigere Schockwelle, so dass es auf der Stelle zu schreien aufhörte und wie zu einer Säule erstarrt stehen blieb. Nichts mehr rührte sich an ihm. Nicht einmal mehr der Atem. Langsam begann das Kind zu hyperventilieren. Dann fing es an zu zittern. Krampfhaft nach Luft schnappend, verlor es nach und nach, immer blauer werdend, die angestammte Gesichtsfarbe. Ins Blaue mischte sich bald gelbliche Blässe. Bald würde irreversible Farblosigkeit folgen.
Auf so ein zitterndes, atemloses, blaugelbgesichtiges Kind, das nackt vor einem am Boden liegenden und exzentrisch um sich schlagenden, etwa fünfzigjährigen ältlichen Mann stand, stieß ein weiterer Spaziergänger, der auf einem nahe gelegenen Parkplatz sein Auto abgestellt und darin seinen Hund vergessen hatte. Als der Mann sah, was er sehen musste, als er es sah, fiel ihm sein vergessener Hund ein, und er rannte panisch zurück zu seinem Auto und fuhr damit, scheinbar übernächtigt noch am helllichten Tag, zur nächsten Telefonzelle, um Polizei und Sanitäter zu alarmieren, seinen eigenen, der Wirklichkeit offenbar entrückten Zustand zu untersuchen.
Alles Weitere ordnete sich kriminaltechnisch vernunft gerecht zueinander. So gelangte, als Bericht eines kleinen, verstörten Mädchens, doch noch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit, was beinahe und für immer vor ihr verborgen geblieben wäre.
Als Polizei und psychologisch geschultes Personal im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus das Kind Stunden später wieder so weit beruhigt hatten, dass es einigermaßen erholt schien, und auch seine Eltern schon ausfindig gemacht und herbeigeeilt waren, begann die Befragung. Was das immer noch schluchzende und immer wieder von Heulkrämpfen geschüttelte Kind dann berichtete, schien weder schlüssig noch unwahr. Dass sich das Kind solche Dinge ausgedacht haben könnte, hielt man wegen seines Alters – es war erst neun – für nicht möglich. Dass es das Geschilderte genauso erlebt habe, aber auch nicht.
Demnach war das Mädchen auf seinem Heimweg von der Schule einer alten, ihm unbekannten Dame begegnet, die das Kind bat, ihr auf der Bank neben dem Kreuz, das auf halbem Weg von Seedorf nach Kirchgrub, eingerahmt von zwei hohen Linden schon seit Jahrhunderten seinen angestammten Platz hatte, ein wenig Gesellschaft zu leisten. Das Mädchen, erzogen zum Respekt gegenüber den Alten, erfüllte die Bitte der Dame und setzte sich neben sie. Man unterhielt sich über die Schule und die Freunde und Freundinnen des Mädchens, erkundigte sich nach gemeinsamen Bekannten, stellte fest, dass man womöglich schon einmal in der Kirche während eines Festgottesdienstes auf der Kirchenbank nebeneinander gesessen habe, und kam überein, gemeinsam den Nachhauseweg über Oberseedorf nach Seedorf zu nehmen. Dieser Weg führte durch einen dichten, teilweise nahezu undurchdringlichen Wald, und als man den zur Hälfte durchquert hatte, blieb die alte Dame, die bis dahin rüstig vorausgegangen war, plötzlich stehen, nahm das Mädchen bei der Hand und sagte: Komm, ich zeige dir jetzt was! Dann führte sie das Mädchen durchs dichte Unterholz zu einer kleinen, uneinsehbaren Lichtung. Dort lag, ausgebreitet auf moosigem Grund, eine wollene Decke. Die Dame bat das Mädchen, jetzt nicht zu erschrecken, und begann sich ihrer Kleider zu entledigen. Dann forderte sie das Kind, das erschreckt zugesehen hatte, auf, seinerseits das Gleiche zu tun. Als es sich weigerte, nahm es die alte Dame in einen eisernen Griff – wie ich so böse und fest noch nie angefasst worden bin, es hat richtig wehgetan – und zerrte ihm sämtliche Kleider vom Leib. Dann zwang sie das Kind mit hartem Druck auf die Decke und befahl ihm, die Beine zu öffnen. Nun kniete sich die alte Dame vor das Kind hin und besah das Geschlecht des Kindes, ohne es zu berühren, eine halbe Ewigkeit lang. Das Mädchen traute sich fast nicht mehr zu atmen. Schließlich, viel Zeit war vergangen, deutete die alte Dame zwischen ihre Beine und sagte: Schau! Und so sieht das bei mir aus.
Und? Was war da?, fragte einer der beiden Polizeibeamten unbeherrscht.
Lange suchte das Mädchen nach Worten. – Ich weiß auch nicht, zwischen gekräuselten Haaren war so was Verschrumpeltes. Wie ein großer Pickel mit so einer Spitze drauf. Meine Oma sieht da ganz anders aus. Mehr wie ich. So die Antwort des Mädchens.
Und dann? Was war
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