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Mittelreich

Mittelreich

Titel: Mittelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef Bierbichler , MITTELREICH
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dann?, bedrängte der Polizist das Mädchen weiter.
    Lassen Sie ihr doch Zeit. Sie muss sich doch erst besinnen, ermahnte ihn die Psychologin streng.
    Dann sagte die Frau, ich soll sie da mal anfassen, da an dem Pickel.
    Und? Hast du es getan?, fragte die Psychologin nach einer Weile einfühlsam, während sie dem Mädchen den Arm streichelte.
    Ja. Aber nur kurz. Dann bin ich davongelaufen. Es hat sich so furchtbar angefühlt. So ... so ... wie ... wie ... einmal haben wir beim Spielen in der Scheune ein Mäusenest entdeckt. Da lagen lauter kleine nackte Mäuse drin. Die haben sich genauso angefühlt. Eklig.
    Und hat sie dich einfach laufen lassen?, fragte wieder der ungeduldige Polizist.
    Ja. Sie hat noch gesagt: Vielen Dank, du liebes Kind. Ich danke dir sehr. Du hast mich befreit. Das hat sie mir nachgerufen. Mein Kleid liegt noch dort. Ich will das neue Kleid wiederhaben. Sie hat mir fast den ganzen Ärmel abgerissen, Mama, kann man den wieder hinnähen?
    Ja, Kind, das kann man wieder hinnähen. Die Herren Polizisten werden das Kleid bestimmt zurückbringen.
    Und so war es auch. Die Landpolizisten machten sich auf den Weg, den das Mädchen beschrieben hatte, und fanden nach kurzem Suchen die kleine Waldlichtung. Die Decke und die Kleider des Mädchens lagen noch da. Von der alten Dame gab es keine Spur. Erst am nächsten Tag wurde ein Spürhund gebracht, der an der Decke die Witterung aufnahm und die Polizisten danach noch einige hundert Meter tiefer in den Wald hineinführte. An einem Bachlauf aber verlor sich die Spur.
    Tage später fand man in dem Waldweiher, den dieser Bach füllte, unter überhängendem Geäst die aufgedunsene Leiche des Fräulein Zwittau. Die folgenden, gerichtsmedizinischen Untersuchungen ergaben, dass das Mädchen die Wahrheit gesagt hatte, nichts als die Wahrheit.
    Das sind einfach ganz andere Menschen, diese Flüchtlinge, war die einhellige Meinung in den Wirtshäusern, als dieses Vorkommnis nach einiger Zeit bekannt wurde, die passen einfach nicht in unsere Gegend. Das geht einfach nicht zusammen!
    Vom Fräulein Zwittau blieb nicht viel. Es gab eine stille Beisetzung auf dem Kirchgruber Friedhof; beigesetzt wurde eine kleine, handlich viereckige Kiste aus rohen Fichtenbrettern, die der Schreiner Sanimeter im Auftrag der Seewirtsschwestern zusammengeleimt hatte, darin das Häufchen Asche, das vom Krematorium herausgegeben worden war; anwesend beim Begräbnis waren der protestantische Pfarrer, der Seewirt und seine Familie mit den noch verbliebenen Angestellten und die Bewohner des Schwarzenhauses; mehr Leute waren nicht gekommen. Das lag weniger an des Fräuleins umstandsreichem Ableben, es lag vor allem daran, dass außerhalb des kleinen Kreises, in den das Fräulein bei seiner Ankunft vor 17 Jahren in Seedorf aufgenommen worden war, nie jemand von ihm Notiz genommen hatte. Das Fräulein blieb unbemerkt. Es lebte so zurückgezogen und unauffällig dahin, dass es in der betriebsamen und selbstgefälligen Dorfgemeinschaft schon zu Lebzeiten übersehen wurde. Die Zeremonie auf dem Friedhof dauerte dementsprechend auch nur eine knappe viertel Stunde, und danach löste sich die kleine Versammlung wieder auf ins übliche Tagesgeschehen. Auch dass die außergewöhnlichen Umstände, die mit dem Freitod des Fräuleins verbunden waren, nicht noch eine Zeit lang Gesprächsstoff lieferten, lag darin begründet, dass niemand im Dorf das Fräulein wirklich gekannt hatte. Und die bedrohliche Fremdheit dieses unbekannten Zwitterwesens, von dem noch in den ersten Tage die Rede war, war den meisten so wenig geheuer, dass man das Gespräch darüber lieber ließ, um nur ja keine Stellung beziehen zu müssen oder gar in den Verdacht eines heimlichen Wissens über dieses schaurige Naturphänomen zu geraten.
    Auch in der Seewirtsfamilie kam das Gespräch über den Tod des Fräuleins tagelang nicht in Schwung. Große Aufregung hatte es noch gegeben, als im Vorfeld der Ereignisse die Mitbewohner des Fräuleins aus dem Schwarzenhaus eines Morgens in der Küche des Gasthauses aufgetaucht waren und berichtet hatten, dass das Fräulein vergangene Nacht nicht nach Hause gekommen sei. Die Gendarmerie wurde sofort verständigt, und die Gendarmen Seetaler und Kramer nahmen ein Protokoll auf. Aber bereits während dieser Formalie wurde erkennbar, dass die beiden Polizisten bereits mehr wussten, als sie gegenüber den Befragten herausrückten. Ständig verließen sie die Küche des Seewirtshauses und tuschelten

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