Mitten in der Stadt - Borrmann, M: Mitten in der Stadt
einer der beiden gesagt: „Sehen Sie, Herr Beckmann, Steuerhinterziehung lohnt sich nicht. Wir kriegen alle.“ Er hatte sich gedemütigt gefühlt.
12
Julia ist vier Monate alt, als ihre Mutter, Julias Oma, tot aufgefunden wird. Erst in deren Wohnung begreift sie, dass die Mutter es ihr gleichgetan hatte. Auch sie hatte ihr eine erfundene Welt entgegengehalten. Johann war nicht zu ihr gezogen.
Die Wohnung ist verdreckt, in allen Zimmern stehen leere Cognacflaschen. Heile Welten, die aus der Entfernung heraus entstanden waren. Ausgesprochene Wünsche, die für die Zeit eines Telefonates wahr wurden. Am Grab steht sie allein mit Sven an der Hand und Julia auf dem Arm. Es ist ein strahlender Herbsttag. Das Licht hebt die Farben und Geräusche hervor, fokussiert sie wie unter einem Brennglas. Die kleine Kapelle ist neben dem Eingang mit wildem Wein bewachsen. So rot wie eine frisch geschlagene Wunde. Nicht weit entfernt zwitschert eine Meise, schimpft sie eine schlechte Tochter. Als die Träger auf die künstlichen Rasenmatten treten, spürt sie eine Verlassenheit, von der sie ahnt, dass sie zukünftig zu ihrem Leben gehören wird. Die Mutter war fern, aber wie ein letzter Strohhalm immer noch da gewesen. Sie drückt Julia an sich und hält Svens Hand fester.
Dann lassen sie den Sarg hinunter in die Grube. Die Seile scheuern unter dem Sargboden. Ein händeringender Ton entsteht. Ein Vorwurf an sie, die Tochter, die in der Ferne ein glückliches Leben im Wohlstand führt und die Mutter vergessen hat. Hier, an diesem Loch sagt sie ihr die Wahrheit.
Zu spät!
Dieses „zu spät“ wird sie noch oft denken. Und immer, wenn sie es denkt, hört sie diesen Ton. Dieses Klagen der Seile. Manchmal streitet sie mit ihrem Mann, dann bleiben blaue Flecken und Verstauchungen, eine gebrochene Rippe oder ein ausgekugelter Arm zurück. Dann verschwindet er für ein paar Tage, kommt aber immer wieder reuig zurück, bittet um Verzeihung, gibt ihr die Schuld und ist in den Tagen danach großzügig. Die Kinder rührt er nicht an. Er ist ein guter Vater. Er arbeitet hart, um ihr und den Kindern ein gutes Leben zu bieten. Vielleicht ist sie wirklich maßlos. Und manchmal lauert sie auf seine anschließende Großzügigkeit. Ein Wäschetrockner, ein neuer Herd, Bekleidung für die Kinder. Und nicht zuletzt die Stunden voller Zärtlichkeit, wenn er was gutzumachen hat. Dann löst sich ihre Einsamkeit, die sie wie ein immerwährender Ton begleitet, auf.
1996 ist Julia ein Jahr alt und Sven kommt in den Kindergarten. Er freundet sich mit Max an, sie sich mit dessen Mutter Nicole. Gegenseite Einladungen machen ihr Leben bunter. Kaffeenachmittage, Spielplatzbesuche, lange Spaziergänge auf der Rheinpromenade und sogar Kinobesuche, wenn sie die Kinder bei Nicoles Mann Martin lassen.
Ihm erzählt sie nichts von dieser Freundschaft. Sie hat keinen Grund zu schweigen. Es ist nur eine Ahnung.
Ein warmer, blendend heller Augusttag verrät ihr Geheimnis.
Im Kindergarten sind Ferien, und sie hat ein kleines, aufblasbares Planschbecken auf den Rasen gestellt. Er hat sich erst zum Wochenende angekündigt. Die Kinder spritzen sich nass, tollen über den Rasen, verfolgen sich mit kleinen Wassereimern. Sie hat Kuchen gebacken und sitzt mit Nicole im Schatten des Pavillons. Die Stimmen der Kinder mischen sich mit dem Lachen der Frauen und steigen hinauf in einen makellos blauen Himmel. Die Freundin wohnt in einer Wohnung im dritten Stock und beneidet sie um den großen Garten. Es ist vier Uhr nachmittags, als der Porsche die Einfahrt hinauffährt. Trotz der Hitze trägt er ein langärmliges Hemd und zieht, bevor er auf sie zukommt, sein Jackett über.
„Willst du mich unserem Besuch nicht vorstellen, Liebes?“
Er begrüßt Nicole überaus galant und setzt sich dazu. „Meine Frau“, sagt er lachend, „willmich immer mit ihrem Alltag verschonen, darum wusste ich gar nicht, dass sie eine neue Freundin hat. Kennen Sie sich schon lange?“ Nicole antwortet wahrheitsgemäß und scherzt: „Wieso hast du mich verschwiegen?“ Sie schluckt. Sie reden über den Garten, über die Siedlung mit den kleinen Balkonen, in der Nicole lebt. Er plaudert charmant, und sie nennt sich in Gedanken dumm. Längst hätte sie ihm von Nicole erzählen können.
Gut eine Stunde später kommt Martin über den Rasen gelaufen. Auch ihn begrüßt er freundlich, aber sie sieht, dass sein Blick sich verändert. Hastig verabschiedet er sich. Er hat noch zu tun. „Einer muss ja
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