Mitternacht
war nicht mehr Grace für ihn; sie war einfach weiblich, und die Erinnerung an ihr wildes Kopulieren erregte ihn und zog ihn noch näher an den Strudel der Regression.
Der übermächtige Wunsch zu degenerieren weckte das Gefühl in ihm, als wäre er in einem Wirbel und würde nach unten gesogen werden, nach unten gesogen, nach unten, und er vermutete, daß sich so der Werwolf fühlen mußte, wenn er zum Nachthimmel aufsah und am Horizont den Vollmond aufgehen sah. Der Konflikt tobte in ihm:
...Blut...
...Freiheit...
- nein. Verstand, Wissen
...Jagen...
...Töten...
- nein. Forschen, Lernen
...Essen...
...Laufen...
...Jagen...
...Ficken...
...Töten...
- nein, nein! Musik, Kunst, Sprache
Das Chaos in ihm wuchs.
Er versuchte, dem Sirenengesang der Wildheit mit Vernunft entgegenzutreten, aber das schien nicht zu funktionieren, daher dachte er an Denny, seinen Sohn. Er mußte an seiner Menschlichkeit festhalten, und sei es nur Dennys we gen. Er versuchte, die Liebe zu beschwören, die er einst für seinen Sohn empfunden hatte, versuchte diese Liebe neu in sich erstehen zu lassen, bis er sie hinausschreien könnte, aber er vernahm nur ein Flüstern vergangener Gefühle tief in der Dunkelheit seines Verstandes. Seine Fähigkeit zu lieben war auf dieselbe Weise von ihm gewichen, wie Materie nach dem Urknall, der das Universum erschaffen hatte, vom Zentrum der Existenz fortgestrebt war; die Liebe zu Denny war jetzt so fern und vergangen, daß sie wie ein Stern am anderen Ende des Universums war, dessen Licht man nur schwach sehen konnte und das wenig Energie zu leuchten und gar keine Energie, Wärme zu spenden, mehr hatte. Doch selbst der Hauch eines Gefühls war etwas, um das er das Bild von sich selbst als menschlich aufbauen konnte, menschlich, in erster Linie Mensch, kein Ding, das auf allen Vieren lief, oder mit am Boden schleifenden Knöcheln, son dern ein Mensch, ein Mensch.
Sein fliegender Atem wurde etwas langsamer. Sein Herzschlag verlangsamte sich von einem unmöglich schnellen dubdubdubdubdubdubdubdubdub zu schätzungsweise hundert oder hundertzwanzig Schlägen pro Minute, immer noch schnell, als liefe er, aber besser. Auch sein Kopf wurde kla rer, aber nicht völlig klar, weil der Geruch des Blutes ein unausweichliches Parfüm war.
Er stieß sich vom Schrank ab und stolperte zu Pennyworth. Der Deputy hatte sich immer noch in der engsten Embryonalhalrung zusammengerollt, die ein erwachsener Mann einnehmen konnte. Spuren der Bestie waren an seinen Händen und im Gesicht zu erkennen, aber er war deutlich menschlicher geworden. Daß er den Namen seiner Mutter sang, schien ebensogut zu wirken, wie die dünne Lebenslinie der Liebe für Loman gewirkt hatte.
Loman nahm seine verkrampfte Hand von der Schrotflinte, streckte sie Pennyworth entgegen und nahm ihn am Arm. »Kommen Sie, verschwinden wir von hier, Junge, weg von dem Geruch.«
Pennyworth begriff und erhob sich umständlich. Er beugte sich zu Loman und ließ sich aus dem Zimmer führen, weg von den beiden toten Regressiven, den Flur entlang ins Wohnzimmer.
Hier erstickte der Uringestank sämtliche Spuren des Blutgeruchs, die aus dem Schlafzimmer hierher gezogen sein konnten. Das war besser. Es war kein übler Geruch mehr, wie vorhin, sondern ätzend und säubernd.
Loman ließ Pennyworth in einen Sessel sinken, das einzige gepolsterte Möbelstück im Zimmer, das nicht in Fetzen gerissen worden war.
»Alles in Ordnung?«
Pennyworth sah zu ihm auf, zögerte, dann nickte er. Sämt liche Spuren der Bestie waren von Gesicht und Händen verschwunden, aber sein Fleisch war seltsam schwammig und immer noch im Stadium der Veränderung begriffen. Sein Gesicht schien von einem heftigen Anfall von Nesselausschlag geschwollen zu sein, große Beulen zogen sich von der Stirn zum Kinn und von einem Ohr zum anderen, und er hatte auch lange diagonale Wülste, die auf der Haut wütend rot leuchteten. Doch diese Phänomene verschwanden, noch während Loman hinsah, und Neil Pennyworth hatte seine Menschlichkeit wieder vollkommen zurückgewonnen. Jedenfalls seine leibliche Menschlichkeit.
»Sicher?« fragte Loman.
»Ja.«
»Bleiben Sie hier.«
»Ja.«
Loman ging in die Diele und machte die Eingangstür auf.
Der Deputy, der draußen stand, war aufgrund der Schüsse und Schreie im Haus so nervös, daß er beinahe auf seinen Vorgesetzten geschossen hätte, bis ihm klar wurde, wen er vor sich hatte.
»Was, zum Teufel, geht da vor?« sagte der Deputy.
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