Mitternacht
das sich Harry für sie ausgedacht hatte, wußte Tessa, sie konnten sich nicht darauf verlassen, daß er wirklich der letzte oder vorletzte auf der Liste der letzten Etappe der Verwandlung war. Was er gesagt hatte, schien einigermaßen zutreffend zu sein, aber es war einfach zu schön. Wie die Entwicklung einer Erzählstruktur beim Drehbuch. Das wirkliche Leben war, wie sie sich gerade vergegenwärtigt hatte, schlampig und unvorhersehbar. Sie wollte verzweifelt glauben, daß Harry bis wenige Minuten vor Mitternacht sicher sein würde, aber in Wirklichkeit würde er in allergrößter Gefahr sein, sobald die Uhr sechs geschlagen hatte und die letzte Etappe der Verwandlungen angefangen hatte.
35
Shaddack blieb fast den ganzen Nachmittag über in der Ga rage von Paula Parkins.
Er machte zweimal das große Tor auf, ließ den Motor des Lieferwagens an und fuhr in die Einfahrt, wo er das Fortschreiten von Moonhawk besser über VDT verfolgen konnte. Er war beide Male zufrieden mit den Daten, fuhr in die Garage zurück und ließ das Tor wieder herunter.
Der Mechanismus tickte planmäßig. Er hatte ihn entworfen, gebaut, aufgezogen und den Starthebel gedrückt. Jetzt konnte er ohne ihn ablaufen.
Er verbrachte die Stunden hinter dem Lenkrad sitzend und hing Tagträumen über die Zeit nach, wenn das Projekt Moonhawk vollendet und die ganze Welt einbezogen sein würde. Wenn keine Alten Menschen mehr existierten, würde er das Wort >Macht< neu definiert haben, denn kein anderer Mensch im Verlauf der Geschichte vor ihm hatte dieses Ausmaß an Kontrolle gehabt. Wenn er die Rasse neu geschaffen hatte, konnte er ihr Schicksal nach seinem eigenen Gutdünken programmieren. Die ganze Menschheit würde ein einziger großer Stock sein, der regsam summte und seiner Vision diente. Bei seinen Tagträumen wurde seine Erektion so hart, daß sie schmerzhaft zu pochen anfing.
Shaddack kannte viele Wissenschaftler, die aufrichtig zu glauben schienen, daß es der Zweck technologischen Fort schritts war, die Lage der Menschheit zu verbessern, die Rasse aus dem Schlamm herauszuholen und schließlich ein mal zu den Sternen zu transportieren. Er sah das anders. Für ihn bestand der einzige Zweck der Technologie darin, Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Die bisherigen potentiellen Neugestalter der Welt hatten sich auf politische Macht verlassen, was in letzter Konsequenz immer die Macht des Gesetzes bedeutete. Hitler, Stalin, Mao, Pol Pöt und viele andere hatten Macht durch Einschüchterung und Massenmord gesucht, sie waren durch Blutlachen zum Thron geschritten, und keinem war am Ende das zuteil geworden, was Silikonchips nun Shaddack geben würden. Die Feder war nicht mächtiger als das Schwert, aber der Mikroprozessor war mächtiger als gewaltige Armeen.
Wenn sie wüßten, was er angefangen und welche Eroberungsfantasien er noch in sich hatte, würden wahrscheinlich alle anderen Männer der Wissenschaft sagen, daß er pervers, krank, nicht normal war. Das war ihm einerlei. Sie hatten selbstverständlich unrecht. Weil ihnen nicht klar war, wer er war. Das Kind des Mondfalken. Er hatte diejenigen vernichtet, die sich als seine Eltern ausgegeben hatten, und er war nicht entlarvt und bestraft worden, was Beweis dafür war, daß die Gesetze und Vorschriften, nach denen andere Menschen leben mußten, auf ihn nicht zutrafen. Seine wahren Eltern waren körperlose und mächtige Geistwesen. Sie hatten ihn vor einer Bestrafung beschützt, weil die Morde, die er vor so langer Zeit in Phoenix begangen hatte, ein heiliges Opfer für seine wahren Vo rfahren gewesen waren, eine Bekundung, wie sehr er an sie glaubte und ihnen vertraute. Andere Wissenschaftler würden ihn mißverstehen, weil sie nicht wissen konnten, daß sich die gesamte Existenz um ihn herum konzentrierte, daß das Universum selbst nur existierte, weil er existierte, und wenn er jemals starb - was unwahrscheinlich war -, würde das gesamte Universum gleichzeitig zu existieren aufhören. Er war der Mittelpunkt der Schöpfung. Er war der einzige Mensch, auf den es ankam. Das hatten ihm die großen Geister gesagt. Die großen Geister hatten ihm diese Wahrheit mehr als dreißig Jahre lang im wachen und im schlafenden Zustand ins Ohr geflüstert.
Kind des Mondfalken...
Während der Nachmittag verstrich, wurde er noch aufgeregter, wenn er an die abschließende Phase des ersten Teils des Projekts dachte, und er hielt das vorübergehende Exil in Parkins' Garage nicht mehr aus. Es schien
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