Mitternachtsfalken: Roman
schimmerte Licht. Arne kramte seine Zigaretten hervor.
»Hast du was von Hermia gehört?«, fragte Harald seinen Bruder. Arne war mit einer jungen Engländerin verlobt, die er jedoch seit der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen vor über einem Jahr nicht mehr gesehen hatte.
Arne schüttelte den Kopf. »Ich hab versucht, ihr zu schreiben, und zwar über die Adresse des britischen Konsulats in Göteborg.« Briefe ins neutrale Schweden waren den Dänen erlaubt. »Ich habe einfach ihren Namen und die Anschrift auf den Umschlag geschrieben, nicht das Konsulat, und kam mir dabei furchtbar clever vor. Aber so leicht lassen sich die Zensoren nicht hinters Licht führen. Mein Dienstvorsitzender hat mir den Brief zurückgegeben und gesagt, wenn ich so was noch einmal mache, lande ich vorm Kriegsgericht.«
Harald mochte Hermia. Unter den Exfreundinnen seines Bruders waren ein paar – na ja – ziemlich dämliche Blondinen gewesen. Hermia war dagegen blitzgescheit und hatte obendrein auch noch Courage. Bei der ersten Begegnung hatte sie Harald mit ihrer rassigen, dunklen Schönheit und ihrer unverblümten Redeweise regelrecht eingeschüchtert. Doch dann hatte sie ihn rasch für sich gewonnen, indem sie ihn wie einen Mann behandelte und nicht wie einen kleinen Bruder. Ganz abgesehen davon wirkte sie mit ihrer üppigen Figur im Badeanzug unglaublich sexy. »Willst du sie immer noch heiraten?«
»Mein Gott, ja – wenn sie noch lebt! Wer weiß denn, ob sie die Bombenangriffe auf London überstanden hat!«
»Dass man nichts weiß. Das muss schlimm sein, oder?«
Arne nickte. Dann sagte er: »Und wie sieht‘s bei dir aus? Irgendwas am Laufen?«
Harald zuckte mit den Schultern. »Die Mädchen in meinem Alter interessieren sich nicht für Schuljungen«, sagte er in leichtem Ton, hinter dem sich jedoch ein gewisser Groll verbarg. Er hatte ein paar schmerzhafte Zurückweisungen ertragen müssen.
»Ich nehme an, sie wollen mit Jungs ausgehen, denen das Geld‘n bisschen lockerer in der Tasche sitzt.«
»Stimmt. Und was die Jüngeren betrifft. Ostern hab ich da ein Mädchen kennen gelernt, Birgit Claussen.«
»Claussen? Etwa aus dieser Schiffbauerfamilie in Morlunde?«
»Ja, genau. Sie sieht gut aus, ist aber erst sechzehn, und es war ziemlich öde, mit ihr zu reden.«
»Die kannst du vergessen. Ihre Familie ist katholisch, unser alter Herr würde da nie zustimmen.«
»Ist mir klar«, sagte Harald und runzelte die Stirn. »Aber irgendwie ist das komisch. Zu Ostern hat er über Toleranz gepredigt.«
»Der ist ungefähr so tolerant wie Dracula.« Arne warf die Kippe seiner Zigarette fort. »Komm, gehen wir rüber und reden mit dem alten Tyrannen.«
»Warte. Bevor wir rübergehen.«
»Was gibt‘s noch?«
»Wie sieht es in der Truppe aus?«
»Finster. Wir können unser Land nicht verteidigen, und fliegen darf ich auch kaum noch.«
»Und wie lange wird das noch so weitergehen?«
»Keine Ahnung. Vielleicht bis in alle Ewigkeit. Die Nazis haben doch überall gesiegt. Sie haben nur noch einen einzigen Gegner, die Engländer, und die pfeifen auch schon auf dem letzten Loch.«
Harald senkte die Stimme, obwohl außer seinem Bruder weit und breit niemand war, der ihn hätte hören können. »Irgendwo in Kopenhagen formiert sich doch bestimmt eine Widerstandsbewegung, oder?«
Arne hob die Schultern. »Wenn du Recht hättest und wenn ich was davon wüsste, dürfte ich‘s dir nicht sagen – oder?«
Ehe Harald antworten konnte, spurtete Arne los und rannte durch den strömenden Regen auf das Licht zu, das durch das Küchenfenster schien.
H ermia Mount betrachtete mit Ekel das Essen, das man ihr vorgesetzt hatte: zwei angebrannte Würstchen, einen schmierigen Klacks Kartoffelbrei und ein Häufchen verkochten Kohls. Sehnsüchtig dachte sie an ein Restaurant am Hafen von Kopenhagen, wo man drei Sorten Hering mit Salat, Mixed Pickles, warmem Brot und Lagerbier bekommen konnte. Sie war in Dänemark aufgewachsen. Ihr Vater war ein britischer Diplomat gewesen, der den größten Teil seiner Karriere in Skandinavien verbracht hatte. Hermia hatte an der britischen Botschaft in Kopenhagen gearbeitet, erst als Sekretärin, später als Assistentin eines Marine-Attaches, der in Wirklichkeit für den Geheimdienst MI6 arbeitete. Als ihre Mutter nach dem Tod des Vaters nach London zurückkehrte, war Hermia in Dänemark geblieben – zum einen wegen ihres Berufs, vor allem aber, weil sie inzwischen mit Arne Olufsen, einem dänischen
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