Mitternachtsflut
die ersten Schränke auszuräumen und die Sachen in Taschen zu verstauen. Am späteren Nachmittag ging Marie hinaus in den Garten, schnitt einige der bunten Blumenranken ab, flocht sie zu einem dicken, duftenden Band, knotete die beiden Lederarmbänder an die Enden und verband sie zu einem schönen Blumenkranz. Als die Sonne begann zu versinken, zog sie das bunte Sommerkleidchen an, das Manolo so gut gefallen hatte, schlüpfte in ihre goldenen Schnürsandalen und machte sich mit ihrem Abschiedsgruß für Manolo und Miguelangel auf den Weg zum Strand. Es dauerte etwas, bis sie den Weg mit den dünnen Schühchen bewältigt hatte.
Doch schließlich stand sie am Ufer und sah hinaus auf das tiefblaue Meer. Wieder einmal hatte jemand den Kampf gegen die Naturgewalt des Ozeans verloren. Fast schämte sich Marie über ihren Gedanken, dass es doch auch irgendjemand anderes hätte sein können. Warum ausgerechnet Manolo? Langsam trat sie so nahe wie möglich an den Rand der Klippen und warf dann den Blumenkranz weit hinaus ins Wasser. Fast spielerisch schaukelte er dort auf den Wellen.
„Manolo, das ist für dich, ich werde dich nie vergessen.“ Dass ihr die Tränen über die Wangen liefen, hätte sie vielleicht noch eine Weile nicht bemerkt, doch über ihre Schulter schob sich wortlos ein nicht mehr ganz weißes Taschentuch. „Du machst aber jetzt keinen Unsinn, oder?“ Johns Stimme war ehrlich besorgt. Marie schüttelte den Kopf. „Nein, John, keine Angst. Das wäre das Letzte das Manolo gewollt hätte.“
„Mhm, so sehe ich das auch.“ John stellte sich schweigend neben sie und so sahen sie beide dabei zu, wie Maries Kranz von den Wellen hinaus getragen wurde. Erst als es schon dunkel wurde, riet John ihr dazu, doch jetzt besser wieder nach oben zu gehen. „Du solltest jetzt in der Nacht nicht hier sein Marie. Das ist sicher noch nicht gut für dich.“ Die Fürsorge des Aussteigers rührte Marie, denn sie wusste, dass es von Herzen kam. Also machte sie sich, unendlich traurig und innerlich gänzlich leer, wieder auf den Weg zurück, weg vom nassen Grab des besten Freundes den sie je hatte.
Als Marie Masca erreichte, sah sie bereits, dass sich dort etwas getan haben musste. Zwei Jeeps der Guardia Civil standen an der Einfahrt zur Straße, die zu ihrem Haus führte. Neugierige Menschen steckten die Nasen aus ihren Fenstern.
In Manolos Haus brannte Licht und als sie näher kam, erkannte Marie die hohe, schlanke Gestalt von Don Jaime. Zögernd betrat Marie den Garten und ging auf den Commandante zu. „Don Jaime, guten Abend. Was ist denn hier los?“ „Marie, hola, wie geht es Ihnen?“ Der besorgte Blick war ehrlich und voller Anteilnahme. „Es geht schon wieder. Ich muss ja irgendwann damit klar kommen. Aber es tut sehr weh.“ „Das glaube ich Ihnen.“ Don Jaime drehte sich suchend um. „Kommen Sie Marie, wir wollen uns setzen.“ Nervös aber gehorsam, denn einem Mann wie Don Jaime widerspricht man nicht, setzte Marie sich neben ihn auf die Bank. „Marie, Sie erinnern sich an das Testament? Es wurde in Santa Cruz umgehend eröffnet und tatsächlich gibt es einen Verwandten, den wir auch rasch ausfindig machen konnten. Seltsam, ich hätte immer schwören können Manolo wäre ein totaler Einzelgänger gewesen, aber so kann man sich täuschen. Nun ja. Aber das Testament ist auch für Sie interessant. Manolo hat Ihnen Ihren Teil des Hauses überschrieben. Das hat er offenbar schon vor längerer Zeit gemacht. So müssen Sie keine Erbschaftssteuer bezahlen. Für den Anteil seines Privatvermögens, wird aber wohl Steuer fällig werden. Wenn Sie Hilfe brauchen, dann greife ich Ihnen dabei gerne unter die Arme.“ Marie war total verwirrt. Manolo vererbte ihr das Haus? „Aber Don Jaime, Manolo hatte doch nie viel Geld. Das Privatvermögen das erhatte, sollte doch an seinen Verwandten gehen, wer auch immer das ist?“ Über Don Jaimes Gesicht zog ein leises Lächeln. „Ja, über Geld mochte er nie reden. Aber er hatte ja auch genug davon. Sie wissen es wirklich nicht, oder?“ Marie schüttelte nur sprachlos den Kopf.
„Manolo gehörte das Grundstück unten am Strand, gleich am Ausgang der Schlucht. Vor vielen, vielen Jahren hat er dort in einer uralten Höhle – weiß der Teufel wie er da überhaupt hineingekommen ist – das sagenhafte Guanchengold gefunden. Dazu noch Artefakte von fast unschätzbarem Wert. Die Kunstgegenstände hat er so gut wie alle der Insel geschenkt, aber das Gold stand ihm zu.
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