Mitternachtsflut
Plötzlich gab er auf. Sein majestätischer Gesichtsausdruck wich einem verzweifelten Gesicht in dem sich endlose Trauer ausbreitete. „Mierda! Ich bin nicht gut in so etwas. Ich kann das nicht. Marie, bitte, Sie müssen jetzt ganz stark sein. Es ist tatsächlich etwas Furchtbares geschehen. Marie, Manolo ist tot!“
Es waren sicher nur Sekundenbruchteile, doch es erschien Marie wie eine Ewigkeit. Sie spürte den stechenden Schmerz, der grauenvoller war als alles das sie je gespürt hatte, als die Worte die sie eben gehört hatte, zu ihrem Bewusstsein vordrangen. Und dann zerbarst Maries Welt in Abertausend kleine Scherben, die mit gespenstischem Glitzern um sie herum zu Boden sanken.
Marie weinte. Ein nicht enden wollender Tränenstrom quoll aus ihren Augen. Seit Stunden saß sie in Manolos Garten auf seiner Gartenbank, auf der sie wieder zu sich gekommen war. Sie wartete auf ein Wunder, das nicht kam, wartete darauf, dass der Freund um die Ecke kommen würde, dass alles ein grauenvoller Irrtum gewesen sei. Don Jaime war der Einzige, der es wagte sie anzusprechen, doch auch er drang kaum zu ihr durch. Zumindest hatte er sie genötigt, ein Glas Wasser zu trinken und nicht sofort zum Meer hinunter zu laufen und ins Wasser zu springen. Um sie herum war hektische Betriebsamkeit, die sie wie durch Wattewolken wahrnahm. Funkgeräte knarrten, Handies fiepten, Männer riefen hektische Befehle in ihre Walkie Talkies.
Ein Leichenwagen, der gerufen worden war, kam und fuhr unverrichteter Dinge wieder ab. Don Jaime gelang es einigermaßen Ordnung in das Chaos zu bringen. Immer wieder hielt er Menschen davon zurück, zu ihr in den Garten vorzudringen. So gut er konnte, schirmte er Marie gegen alles und jeden ab. Es war bereits Nachmittag, als er ihr aufhalf und sie in ihr Haus führte, wo er sie soweit brachte, sich kurz umzuziehen und ihr brennendes Gesicht mit kaltem Wasser zu kühlen. Sie bekam mit, wie er Anweisung erteilte, dass alle Unbefugten aus der Bucht zu verschwinden hätten. Kurze Zeit später half er ihr dabei, mit ihm durch die Schlucht zum Strand zu kommen. Er hielt ihren Arm ganz fest, sodass sie weder stürzen noch davonlaufen konnte. Sie begriff, dass es jetzt nötig war, hierher zu kommen. Vorsichtig führte Don Jaime sie über den Strand hin zu den Klippen. Zuerst verstand sie nicht was geschah, als ein Uniformierter auf sie zutrat und ihnen mit ausdruckslosem Gesicht ein kleines Bündel entgegen hielt. Don Jaime griff mit der anderen Hand danach und half ihr dann dabei sich auf einen Stein zu setzen. Erst jetzt erkannte sie, was er da in den Händen hielt. In namenlosem Entsetzen blickte sie auf Manolos Jeanshemd und seine schwarzen Espandrillos. Ohne zu begreifen sah sie in das Gesicht von Don Jaime. „Er ist doch nicht...?“ „Doch Marie. Er ist ertrunken. Er muss gestern am Abend schwimmen gegangen sein. Wir alle können es nicht verstehen. Es ist uns unbegreiflich. Gerade Manolo, ausgerechnet er, der besser als kein anderer wusste wie gefährlich die Mitternachtsflut ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, er wollte sterben.“ „Mitternachtsflut“ Marie hatte das Wort nur geflüstert. „Ja, letzte Nacht war wieder einmal Mitternachtsflut. Oh mein Gott, bitte Marie nicht wieder weinen. Das hätte Manolo nicht gewollt, bitte!“ Doch so sehr Marie es versuchte, sie konnte den Tränenstrom nicht unterbinden. Er hatte sie alleine gelassen, ganz alleine. Er war gestorben und sie war nicht da gewesen. Mitternachtsflut – wie drohend das nun plötzlich klang, wie grausam. Die Mitternachtsflut, die ihr eigentlich Glück hatte bringen sollen, hatte ihr nun den wichtigsten Menschen in ihrem Leben genommen. Sie hatte immer gewusst, dass das Meer grausam war, doch nicht, dass es so grausam sein könnte. Ganz tief in ihrem Innern meldete sich eine leise Stimme die ihr zuraunte, dass nun wenigstens Vater und Sohn wieder vereint wären. Doch das vermochte sie nicht zu trösten. Sie sah die Boote, die auf dem Wasser kreuzten. Sie sah die Taucher, die an den Felswänden tauchten – sie alle suchten nach Manolos Leichnam. „Sie haben ihn noch nicht gefunden?“ „Nein, Marie. Sie suchen seit dem frühen Morgen. Die Ebbe muss den Körper auf das offene Meer hinaus getragen haben. Wir können ihn nicht finden.“
Nachdem Don Jaime Marie nach Hause gebracht hatte, durchsuchte er, nur mit seinem Adjutante, das Haus Manolos nach Dokumenten. Nur kurze Zeit später kam er zu Marie, um sich zu
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