Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
sich vergangener Tage erinnert. Des Tags, an dem ich feststellte, dass ein altes Kakteenbeet die Revolution der Narlikar-Frauen überlebt hatte, mir vom Mali einen Spaten lieh und eine lang vergessene Welt ausgrub: einen Blechglobus, der einen vergilbten, von Ameisen angefressenen riesengroßen Schnappschuss von einem Baby enthielt, aufgenommen von Kalidas Gupta, und den Brief eines Ministerpräsidenten. Und wir gedenken anderer Tage, die noch länger zurückliegen: Zum dutzendsten Mal plaudern wir über den Umschwung des Glücks in Mary Pereiras Geschick. Wie sie alles ihrer lieben Schwester Alice verdankte. Deren armer Herr Fernandes an Farbenblindheit starb, weil er in seinem alten Ford Prefect an einer der damals noch seltenen Ampeln in der Stadt durcheinander geriet. Wie Alice sie in Goa besuchte und ihr mitteilte, dass ihre Arbeitgeber, die grässlichen und unternehmenden Narlikar-Frauen, bereit waren, etwas von ihrem Tetrapodengeld in eine Picklesfirma zu stecken. «Ich hab’ ihnen gesagt, niemand macht Pickles und Chutney so wie unsere Mary», hatte Alice ganz richtig gesagt, «denn sie legt ihre Gefühle hinein.» So stellte sich Alice letzten Endes als braves Mädchen heraus. Und Baba, was meinst du, wie hätte ich annehmen können, dass die ganze Welt meine armseligen Pickles essen will, selbst in England essen sie sie. Und jetzt stell dir bloß vor, sitze ich hier, wo dein liebes Haus stand, während dir Gott-weiß-was-alles passiert ist und du so lange wie ein Bettler gelebt hast, was für eine Welt, baapu-ré!
Und bittersüße Klagen: Oh, deine arme Mama, dein armer Papa! Diese feine Dame, tot! Und der arme Mann, der nie wusste, wer ihn liebte oder wie er lieben sollte! Und sogar das Äffchen ... aber
ich unterbreche sie, nein, nicht tot: nein, nicht wahr, nicht tot. Heimlich in einem Nonnenkloster, wo sie Brot isst.
Mary, die den Namen der armen Königin Katharina gestohlen hat, die diese Inseln den Briten gab, hat mir die Geheimnisse des Einlegens beigebracht. (Und damit eine Erziehung zu Ende geführt, die in genau diesem Luftraum begann, als ich in einer Küche stand, während sie Schuld in grünes Chutney rührte.) Jetzt sitzt sie zu Hause, hat sich im weißhaarigen Alter von den Geschäften zurückgezogen und ist noch einmal als Ayah glücklich, weil sie ein Baby aufziehen kann. «Jetzt, wo du mit deinem Geschreibsel fertig bist, Baba, solltest du dir mehr Zeit für deinen Sohn nehmen.» Aber Mary, ich habe es für ihn getan. Und sie wechselt das Thema, weil ihre Gedanken mittlerweile alle möglichen Flohsprünge machen: «O Baba, Baba, sieh dich an, wie alt du schon bist!»
Die reiche Mary, die sich nie hätte träumen lassen, dass sie einmal reich sein würde, kann immer noch nicht in einem Bett schlafen; trinkt aber sechzehn Coca-Cola am Tag, ohne sich Gedanken um ihre Zähne zu machen, die sowieso schon alle ausgefallen sind. Ein Flohhüpfer: «Warum heiratest du so plötzlich?» Weil Padma es will. Nein, sie ist nicht in anderen Umständen, wie könnte sie, bei meinem Zustand? «Okay, Baba, ich hab’ ja nur gefragt.»
Und der Tag wäre friedlich zu Ende gegangen, ein dämmeriger Tag kurz vor dem Ende aller Zeit, wenn nicht Aadam Sinai nun endlich im Alter von drei Jahren, einem Monat und zwei Wochen einen Laut von sich gegeben hätte.
«Ab ... » Arré, o mein Gott, hör zu, Baba, der Junge sagt etwas! Und Aadam, sehr bedächtig: «Abba ... » Vater. Er nennt mich Vater. Aber nein, er ist noch nicht fertig, Anstrengung zeichnet sein Gesicht, und endlich bringt mein Sohn, der ein Magier werden muss, damit er es mit der Welt, die ich ihm hinterlasse, aufnehmen kann, sein Ehrfurcht erregendes erstes Wort zu Ende: «... kadabba.»
Abrakadabra! Aber nichts geschieht, wir verwandeln uns nicht in Kröten, keine Engel fliegen durchs Fenster herein: Das Kerlchen
übt nur seine Muskeln. Ich werde die Wunder nicht sehen, die er vollbringen wird ... Während Mary Aadams Leistung feiert, gehe ich zurück zu Padma und der Fabrik: Meines Sohnes erstes rätselhaftes Vordringen in die Sprache hat in meiner Nase einen beunruhigenden Geruch hinterlassen.
Abrakadabra: überhaupt kein indisches Wort, eine kabbalistische Formel, die sich vom Namen des obersten Gottes der Basilides-Gnostiker herleitet und die Zahl 365 enthält, die Zahl der Tage des Jahres und der Himmel und der Geister, die von dem Gott Abraxas ausströmen. «Was», frage ich mich nicht zum ersten Mal, «bildet der Junge sich
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