Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
anders, ich musste sie fragen: «Warum ...?» Worauf sie schlicht sagte: «Ich bin blind, und außerdem kommt niemand hierher, der gesehen werden möchte. Hier sind Sie in einer Welt ohne Gesichter und Namen; hier haben die Menschen weder Erinnerungen noch Familie, noch Vergangenheit; das hier ist für das Jetzt, für nichts als den gegenwärtigen Augenblick.»
Und die Dunkelheit umschloss uns; sie führte uns durch die Albtraumgrube, in der das Licht in Schranken und Fesseln gehalten wurde, durch jenen Ort außerhalb der Zeit, jene Negation der Geschichte ...«Setzen Sie sich hierhin», sagte sie. «Der andere Schlangenmann kommt gleich. Wenn es Zeit ist, wird man einen Lichtstrahl auf Sie richten. Dann fangen Sie mit Ihrem Wettstreit an.»
Wir saßen dort – wie lange? Minuten, Stunden, Wochen? –, und die glühenden Augen blinder Frauen führten unsichtbare Gäste zu ihren Plätzen. Und allmählich wurde mir in der Dunkelheit bewusst, dass ich von einem leisen verliebten Geraschel umgeben war, das sich anhörte wie die Paarungen samtiger Mäuse; ich hörte, wie mit Gläsern angestoßen wurde, die in verschlungenen Armen gehalten wurden, und wie Lippen sich sanft berührten; mit einem guten und einem schlechten Ohr hörte ich die Geräusche unerlaubter Sexualität in der Mitternachtsluft ... aber nein, ich wollte nicht wissen, was vor sich ging; wenn auch meine Nase in der raschelnden Stille des Klubs alle möglichen neuen Geschichten und Anfänge, exotischen und verbotenen Liebesaffären und kleinen unsichtbaren Pannen und Wer-zu-weit-ging, einfach alle Arten pikanter
Leckerbissen riechen konnte, zog ich es doch vor, sie alle zu ignorieren, denn dies war eine neue Welt, in der ich keinen Platz hatte. Mein Sohn Aadam saß jedoch mit vor Faszination glühenden Ohren neben mir; seine Augen glänzten in der Dunkelheit, als er lauschte und sich Dinge einprägte und lernte ... und dann leuchtete ein Licht auf.
Ein einzelner Lichtstrahl ergoss sich in einen Kreis auf dem Boden des Mitternachts-Krypto-Klubs. Im Schatten jenseits der erleuchteten Fläche sitzend, sahen Aadam und ich Picture Singh, der steif und mit untergeschlagenen Beinen neben einem gut aussehenden, mit Bryll eingecremten jungen Mann saß; beide waren von Musikinstrumenten und den verschlossenen Körben ihrer Kunst umgeben. Ein Lautsprecher kündigte den Beginn jenes legendären Wettstreits um den Titel des Bezauberndsten Mannes der Welt an; doch wer hörte zu? Passte überhaupt jemand auf, oder waren sie zu sehr beschäftigt mit Lippen Zungen Händen? Und so lautete der Name von Picturejis Gegner: der Maharadscha von Cooch Naheen.
(Ich weiß nicht: es ist leicht, einen Titel anzunehmen. Aber vielleicht, vielleicht war er wirklich der Enkel jener alten Rani, die einst, vor langer Zeit, eine Freundin von Doktor Aziz gewesen war; vielleicht trat der Erbe der Gönnerin des Kolibris ironischerweise gegen den Mann an, der der zweite Mian Abdullah hätte sein können! Denkbar ist es immerhin; viele Maharadschas sind arm, seit Die Witwe ihre Zivillisten gestrichen hat.)
Wie lange kämpften sie in dieser sonnenlosen Höhle? Monate, Jahre, Jahrhunderte? Ich kann es nicht sagen: Hypnotisiert sah ich zu, wie sie sich mühten, einander zu übertreffen, jede nur erdenkliche Schlangenart bezauberten und darum baten, dass seltene Arten aus der Bombayer Schlangenfarm (wo einst Doktor Schaapsteker ...) geschickt würden; und der Maharadscha tat es Schlange um Schlange Picture Singh gleich. Ihm gelang es sogar, eine Boa constrictor zu beschwören, was bis dahin nur Pictureji geschafft
hatte. In diesem infernalischen Klub, dessen Dunkelheit nur noch mehr bezeugte, wie sehr sein Besitzer von der Farbe Schwarz besessen war (unter deren Einfluss er seine Haut im Sun’n’Sand jeden Tag dunkler bräunte), trieben die beiden Virtuosen Schlangen zu unmöglichen Leistungen, hießen sie sich selbst zu Knoten oder Schleifen knüpfen oder überredeten sie, Wasser aus Weingläsern zu trinken oder durch Feuerreifen zu springen ... Müdigkeit, Hunger und Alter trotzend, gab Picture Singh die grandioseste Vorstellung seines Lebens (aber sah jemand zu? auch nur ein einziger Mensch?) – und endlich zeichnete sich ab, dass der junge Mann als Erster ermüdete; seine Schlangen tanzten nicht mehr im Takt der Flöte, und schließlich gelang es Picture Singh durch ein Wunder an Fingerfertigkeit so schnell, dass ich nicht sah, was geschah, eine Kobra um den Hals des Maharadschas
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