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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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einem Zimmer verbracht hatten. Ich fragte mich, ob er sich verändert hatte oder ich.
    »Du bist ja ein wahrer Meteorologe«, sagte ich, ein bisschen angefressen, weil er Sullivan demonstrierte, dass es ihm nicht gleichgültig war, wann die Sonne unterging – und weil er irgendwie seine runde Art verändert haben musste, als ich nicht hingeschaut hatte. »Oder wer sonst etwas von Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Mondphasen versteht.«
    »Es schadet nie, gut informiert zu sein«, meinte Sullivan und warf mir einen Blick zu, als wollte er mir mit dieser Bemerkung ein schlechtes Gewissen machen. Funktionierte nicht. Er aß einen Bissen Ei und sprach mit vollem Mund. »Also, ich habe heute mit Dr.Linnet gesprochen.«
    Paul und ich schnaubten, und ich fragte: »In was hat sie denn einen Doktortitel? Hässlichkeit?«
    »Schwach, James. Sie hat in Englisch oder Psychologie oder so promoviert. Euch braucht nur zu interessieren, was diese drei Buchstaben – PhD für Doctor of Philosophy – in Verbindung mit ihrem Namen bedeuten, nämlich, dass sie uns das Leben entsetzlich schwermachen kann, wenn sie will. Das liegt daran, dass ich nur zwei Buchstaben habe: M.A. für Master of Arts. Was an dieser Schule so viel heißt wie ›unterste Stufe der Hackordnung‹.« Sullivan schluckte den nächsten Bissen hinunter und deutete mit der Gabel auf eine Mappe auf dem Tisch. »Sie hat mir eure Entwürfe gebracht. Anscheinend habt ihr damit tiefen Eindruck bei ihr hinterlassen.«
    »Ja. Sie hat ein paar ihrer Eindrücke noch in der Stunde mit uns geteilt.« Ich schlug die Mappe auf. Unsere identischen Entwürfe steckten säuberlich darin, und eine der Ecken war immer noch geknickt, wo Linnet sie vor- und zurückgebogen hatte. Das ärgerte mich
jetzt
noch.
    »Sie hat mehrere …
gewichtige
Punkte angesprochen.« Sullivan stellte seinen Teller auf den Tisch und legte die Füße daneben hoch. »Zunächst einmal ist ihr aufgefallen, dass euere Arbeit eine recht lockere Interpretation meiner Aufgabenstellung zu sein scheint. Sie hält meine Herangehensweise in diesem Kurs überhaupt für zu nachlässig. Und sie fand offenbar, dass James in ihrem Unterricht ziemlich dreist aufgetreten ist.«
    Ich sagte nichts. Schließlich war keiner ihrer gewichtigen Punkte direkt unwahr.
    »Sie hat mir empfohlen … Lasst mich schnell nachsehen. Gib mir die Mappe. Ich habe mir das aufgeschrieben, weil ich es nicht vergessen wollte.« Sullivan streckte die Hand aus, und Paul reichte ihm vorsichtig die Mappe. Hinter unseren Entwürfen zog Sullivan ein Blatt Papier hervor. »Also, Empfehlungen. ›Erstens: Stellen Sie Hausaufgaben mit klar definierten Grenzen und seien Sie bereit, diese
streng
durchzusetzen, vor allem bei schwierigen Schülern, von denen Sie mindestens einen haben. Zweitens: Achten Sie strikt auf ein reines Lehrer-Schüler-Verhältnis, um sich Ihre Position als Respektsperson zu erhalten. Drittens: Seien Sie besonders streng bei der Benotung schwieriger Schüler – deren problematische Einstellung beruht auf mangelndem Respekt und umso stärkerer Selbstüberschätzung.‹«
    Sullivan ließ das Blatt sinken und blickte von mir zu Paul. »Außerdem empfiehlt sie mir, dir zu sagen …« Er nickte Paul zu. »… dass du einen neuen Entwurf schreiben sollst, der sich an die Grenzen der Aufgabenstellung hält. Den sollst du bis zur Stunde am Montag vorlegen, wenn du die Chance haben willst, deine Note von einer Drei auf eine Zwei zu verbessern. Und dir …« Er sah mich an. »… soll ich eine Drei für den Entwurf geben und dir sagen, dass du ebenfalls bis Montag eine neue Gliederung vorlegen musst, wenn du keine Sechs bekommen willst.«
    Pauls Mund formte sich zu einem Kreis, was ihm sicher nicht bewusst war. Ich verschränkte die Arme vor der Brust und sagte gar nichts. Was auch immer Sullivan tun würde, er hatte sich schon entschieden – ein blinder Affe konnte das erkennen. Und ich hatte nicht vor, um eine bessere Note zu betteln. Scheiß drauf.
    Sullivan warf die Mappe auf den Tisch und spiegelte meine Haltung, indem er die Arme verschränkte. »Also habe ich nur eine Frage an dich, James.«
    »Bitte.«
    Mit dem Kinn wies er in Richtung unserer Entwürfe. »Wen hast du für die Rolle des Blakeley vorgesehen? Ich glaube, ich würde einen ausgezeichneten Blakeley abgeben.«
    Paul grinste, und ich erlaubte einer Seite meines Mundes, zu lächeln. »Bedeutet das also, dass ich keine Drei für den Entwurf bekomme?«
    Sullivan nahm

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