Mitternachtskinder
die Füße vom Tisch. »Das bedeutet, dass ich nicht viel von Regeln halte. Es bedeutet, dass irgendeine verbitterte Dramatiklehrerin mir nicht vorschreibt, wie ich meine Klasse unterrichte. Dieses Stück ist
heiß,
Jungs. Selbst an dem Entwurf kann ich das schon erkennen. Es könnte eine grandios selbstironische Satire werden, und ich wüsste nicht, warum ihr beiden nicht euer Bestes geben und den Kurs damit bestehen solltet. Aber ihr werdet für eure Note härter arbeiten müssen als eure Mitschüler – die brauchen nur einen Aufsatz zu schreiben.«
»Das ist uns egal«, gab Paul sofort zurück. »Was wir machen, ist viel cooler.«
»Ist es. Wo wollt ihr proben?«
Doch keiner von uns antwortete gleich darauf, denn in der Ferne begann der gehörnte König, langsam und flehend zu singen.
Mit einiger Mühe übertönte ich das Lied: »In der Brigid Hall.«
»Interessante Wahl«, meinte Sullivan. Er ließ den Blick über Paul gleiten, der auf manische Art mit den Fingern auf dem Tisch herumtrommelte, als hätte er zu viel Kaffee getrunken, und ständig blinzelte. Paul sang nicht laut mit dem König der Toten mit, doch er hätte sich ebenso gut eine große Leuchtreklame auf den Kopf setzen können:
Wir flippen auch für Sie aus – Telefon 0800 -N-E-R-V-O-E-S
.
Ich funkelte ihn an.
»Stimmt etwas nicht, Paul?«, fragte Sullivan.
»Er …«, begann ich.
»Ich höre den König der Toten«, platzte Paul heraus.
Na, großartig. Ich stützte das Kinn in die Hand und tippte mit den Fingern an meine Wange.
Sullivan warf mir einen Blick zu und sah dann wieder Paul an. »Was hat er gesagt?«
»Er singt eine Liste von Toten«, sagte Paul. Mit den Fingerspitzen krallte er sich so fest an die Tischkante, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten. Er drückte die Finger auf die Platte, als spielte er darauf ein Lied. »Nicht die jetzigen Toten. Die zukünftigen Toten. Halten Sie mich jetzt für, na ja, unzurechnungsfähig?«
»Nein.« Sullivan trat ans Fenster und stemmte sich mit der Schulter dagegen. Es quietschte und gab nach. Er schob es ein paar Fingerbreit auf, und kalte Luft strömte zusammen mit dem Lied herein. Es zog an meinen Knochen und drängte mich, aufzustehen und ihm zu folgen. Ich musste meine gesamte Willenskraft aufbieten, um nicht vom Stuhl zu springen und nach draußen zu rennen. »Eine Menge Leute – na ja,
Menge
ist vielleicht übertrieben –, viele Leute hören ihn im Oktober vor Halloween.«
»Warum?«, fragte Paul. »Warum muss ich das hören?«
Sullivan schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Er sagt verschiedenen Leuten verschiedene Dinge. Das bedeutet nicht, dass du verrückt bist.« Aber irgendwie beruhigte mich das nicht. Er sagte das, als könnte Verrücktheit in diesem Fall die angenehmere Alternative sein. Sullivan trat an seine Küchentheke und holte einen Notizblock, den er direkt vor Paul hinlegte.
Gehorsam griff Paul nach dem Stift, der neben unseren Entwürfen lag. »Wofür ist das?«
Sullivan schob das Fenster ein Stückchen weiter auf und betrachtete mich wieder, ehe er Paul antwortete. »Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die Namen aufschreiben könntest, die er dir sagt.«
Neue Textnachricht
An:
James
Linnet hat mich gestern nacht erwischt, als ich vom feentanz kam. Ich weiß, dass sie wusste, wo ich war, & ich hatte angst, weil sie im unterricht so gemein ist. Sie hat nur gesagt, lassen sie sich nicht von jmd. anderem erwischen.
Absender:
Dee
Nachricht senden? J/ N
Nachricht wurde nicht gesendet.
Nachricht speichern? J /N
Nachricht wird 30 Tage gespeichert.
[home]
James
D ie Lobby der Seward Hall war ein ungeheuer sicherer Ort, und ich hatte es inzwischen bitter nötig, mich irgendwo sicher und geborgen zu fühlen. Dort standen vier der bequemsten Sessel der Welt, was für einen sicheren Ort ungeheuer wichtig ist, und dazu vier weiche Fußschemel. Außerdem gab es je eine Nische in allen vier Ecken, die jeweils ein Weltwunder enthielten. Nördliche Ecke: ein Flügel, der älter war als Moses und sich anhörte wie eine Dampforgel. Südliche Ecke: die Reproduktion einer griechischen Statue – irgendein kopfloses Weib mit makellosen Titten. Östliche Ecke: ein Bücherregal mit jedem Werk der »Weltliteratur, Die Du Niemals Lesen Wirst« in beeindruckender Hardcoverausgabe. Westliche Ecke: Snackautomat (denn manchmal schaffte man es eben nicht, irgendetwas anderes als Chips zum Frühstück zu bekommen).
Es war fast zwei Uhr
Weitere Kostenlose Bücher