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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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Sturz, mein Fall,
    mein Abstieg in diese immer dunklere Liebe.
    Aus Die Goldene Zunge:
Gedichte von Steven Slaughter
    D iesmal strahlte ich wie eine Flamme, als ich geboren wurde. Ich konnte mich an meinen ersten Schüler nicht recht erinnern, aber ich wusste noch, dass seine Gemälde riesig und gelb gewesen waren, sein Tod brutal und sehr schnell.
    Der zweite hatte ein wenig länger durchgehalten. Fast ein halbes Jahr lang, dachte ich, aber vielleicht täuschte ich mich mit dieser Erinnerung selbst, um mich besser zu fühlen. Er hatte mich so sehr gewollt. Die Träume, die ich ihm schickte, und die Worte, die ich ihm ins Ohr flüsterte, hatten ihn derart gequält, dass er nicht einmal gewartet hatte, bis er von seinem Körper im Stich gelassen worden war. Mitten in der Nacht hatte ich mich nur irgendwie …
hungrig
gefühlt, und als ich ihn fand, hatte er da gehangen wie ein totes Schwein beim Schlachter.
    Und darauf folgte der erste, an den ich mich gut erinnern konnte. Da hatte ich mich schon besser im Griff gehabt und dafür gesorgt, dass sie länger hielten. Jack Killian hieß er, und er war ein genialer Geiger gewesen. Jetzt erinnerte er mich an James, denn auch er hatte so sehr
mehr
gewollt. Er wusste nicht einmal, was dieses Mehr war, wusste nur, dass er mehr sein wollte, dass am Leben mehr dran sein musste, und wenn er dieses Mehr nicht fand, dann würde das Leben nur ein grausamer Streich sein, den die Natur ihm spielte.
    Zwei Jahre. Ich ließ seine Fiedel so lieblich klingen, dass die Zuhörer weinten. Die Lieder, die er schrieb, krallten sich an der Tradition fest, streckten aber auch die Hand aus und rissen von der Musik der Gegenwart an sich, was immer sie brauchten. Er war Dynamit. Killian ging auf Tourneen, verkaufte Alben und wollte mehr, mehr, mehr, und ich nahm mehr, mehr, mehr. Bis er mich eines Tages angesehen und gesagt hatte: »Brianna« – diesen Namen hatte ich ihm genannt –, »ich glaube, ich sterbe.«
    Das war lange her. Jetzt saß ich in meinem Kinosessel, genau so, wie man nicht sitzen soll, nämlich mit den Füßen auf der Lehne des Sitzes vor mir, und versuchte, nicht mehr daran zu denken. Es waren zu wenig Leute im Kino, als dass sich jemand um meine hochgelegten Füße geschert hätte – immerhin war dies nur eine Matinee im winzigen Gallon, Virginia.
    Der Film war ein Actionabenteuer, das sich über drei Kontinente hinweg abspielte. Es starrte vor Actionszenen und Spannung und allem möglichen Mist, der meine Aufmerksamkeit hätte fesseln sollen. Trotzdem konnte ich nur daran denken, wie James mich auf dem Hügel angesehen hatte, kurz davor, mich um den Pakt zu bitten.
    Ich schloss die Augen, doch nun sah ich Killians Gesicht. Ich dachte, ich hätte es schon vor langer Zeit vergessen. Ich dachte, ich hätte sie alle schon längst vergessen.
    »Jagen wir den Laden in die Luft«, sagte der markig-gutaussehende Held auf der Leinwand, und ich öffnete die Augen. Sein Daumen ruhte auf einem Zünder – er wusste nicht, dass irgendwo außerhalb des Bildes seine rehäugige Filmliebe in dem Gebäude gefangen war, das er sprengen wollte. Sie rief ihn auf seinem Handy an, und die Kamera zeigte dem Zuschauer, dass es auf Vibration gestellt war und er es wegen ganzer Bataillone von Hubschraubern, die um ihn herumflogen, nicht bemerkte. Idiot. Solche Hornochsen verdienten es, allein zu sterben.
    Meine Opfer sollten mir eigentlich gleichgültig sein. Wie könnte ich leben, wenn sie mir etwas bedeuteten?
    Vor mir drückte der markige Held auf den roten Knopf. Die Leinwand füllte sich mit einem gigantischen Feuerball, der auf unglaublich unrealistische Weise zwei Hubschrauber mit explodieren ließ.
    Wenn ich bei diesem Film Regie geführt hätte, wäre eine Sekunde vor der Explosion ein Schnitt zum Gesicht der Heldin gekommen, in dem Augenblick, als sie alle ihre Muskeln angespannt und erkannt hätte:
Ich bin gefangen. Hier komme ich nicht mehr heraus.
    Ich war so hungrig. Ich hatte noch nie so lange durchgehalten, ohne einen Pakt einzugehen.
    Wieder dachte ich an Killian, der mich anschaute, und ich hörte seine Stimme – ich hatte geglaubt, auch die hätte ich vergessen. Aber als sich die Szene diesmal vor meinem inneren Auge abspielte, war ich es, die sprach, und ich sah dabei James an.
    »James«, sagte ich, »ich sterbe.«
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Jetzt spielen u. tanzen wir jede nacht auf den hügeln. Ich hatte solche angst, dass du darauf kommst, als du meine note

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