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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Salman Rushdie
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morgens. Ein Stück den Flur entlang schlief Sullivan hinter seiner geschlossenen Tür, ohne etwas von meiner Wanderschaft zu ahnen. Irgendwo im dritten Stock schnarchte Paul. Ich beneidete ihn um diese Fähigkeit, zu schlafen. Ich hatte das Gefühl, auf und ab gehen oder schreien oder sonst etwas tun zu müssen – ich konnte nicht aufhören, an Halloween zu denken. Jedes Mal wenn ich daran dachte, sträubten sich mir die Nackenhaare, und eine Gänsehaut breitete sich auf meinen Schultern aus. Zu schlafen schien mir völlig ausgeschlossen.
    Still und dunkel hielt die Lobby den Atem an. Die Straßenlaternen vor den Fassadenfenstern tauchten sie in ein seltsam orange-rötliches Licht. Die bequemsten Sessel der Welt warfen Schatten, die sich streckten, bis sie zehnmal so groß waren wie die Sessel selbst. Ich ließ mich in einen davon fallen und blieb dort so reglos sitzen, dass es sich anfühlte, als hätte ich vergessen, wie man sich bewegt.
    Ich fühlte mich allein.
    Ich hatte keinen Stift dabei. Also holte ich den Troststein aus der Hosentasche und rieb ihn mit dem Daumen, bis der Drang, mir auf die Haut zu schreiben, nachließ.
    Nuala, bist du da?
    »Ich bin hier«, flüsterte sie aus einem der anderen Sessel; sie saß ganz vorn am Rand, als wollte sie bereit sein, notfalls sofort aufzuspringen und wegzulaufen. Ich wusste nicht, warum sie sich die Mühe machte, überhaupt zu flüstern, da niemand außer mir sie hören konnte. Doch ich freute mich so, sie zu sehen, dass ich sie nicht damit aufzog. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit ich zuletzt auf dem Hügel geübt hatte, und beinahe hatte ich schon geglaubt, sie sei endgültig verschwunden. Halb erhob ich mich und schleifte meinen Sessel über das Parkett, bis wir einander gegenübersaßen und unsere nackten Knie sich berührten.
    Ich sah Nuala ins Gesicht. Meine Frage wollte ich lieber nicht laut stellen.
Glaubst du wirklich, dass wir sterben werden, wie Paul behauptet? Und meinst du, dass
sie
uns töten werden? Und nicht ein dämliches Feuer im Wohnheim oder so
?
    Im trüben Licht waren Nualas helle Augen schwarz, und ich konnte dunkle Ringe darunter sehen. »Sie töten Feen. Einzelne Feen, so wie mich. Diejenigen, die viel Kontakt zu Menschen haben. Ich habe die Leichen gesehen. Vielleicht glauben sie, wir würden euch vor etwas warnen. Nicht dass sie uns einen
feuchten Dreck
gesagt hätten.«
    Ich fand den Gedanken seltsam, dass sie müde aussah. Sie wirkte so menschlich und verletzlich, winzig in dem mächtigen Sessel. Wenn das Dee gewesen wäre, hätte ich sie trösten oder einen Witz machen müssen, aber Nuala brauchte ich nichts vorzumachen. Sie konnte ohnehin sehen, was mir durch den Kopf ging, daher hatte es keinen Zweck, ihr irgendetwas anderes zu zeigen als die Wahrheit.
    Und in Wahrheit hatte ich allmählich das Gefühl, dass alles außer Kontrolle geriet. Ich drückte die Hände vors Gesicht und rieb mir die Augen, bis ich bunte Funken sah.
    »Aber hast du es nicht schon selbst gesehen? Du bist doch angeblich der Superhellseher, oder?« Nualas Stimme klang bitter, als hätte ich ihr absichtlich Warnungen vor bevorstehendem Tod und unausweichlicher Vernichtung verschwiegen.
    »Nuala, alles, was Paul mir enthüllt hat … und dass du mir gesagt hast, es gäbe hier Schlimmere als dich … und dass mit Dee irgendetwas Seltsames vorgeht, das ist alles neu und unerwartet für mich. Ich bin kein guter Hellseher. Ich erkenne manchmal, wenn etwas nicht stimmt. Aber ich kann nicht sagen, was oder wann etwas passieren wird und ob ich irgendetwas dagegen unternehmen sollte. Ich habe versucht, irgendeinen Sinn darin zu entdecken, aber es geht nicht. Das sind nur Gefühle, keine Worte. Und um ganz ehrlich zu sein: Hier geht so viel Seltsames vor sich, dass ich nicht mal herausfinden kann, wovon genau mir die Haare zu Berge stehen. Ich bin einfach …« Ich verstummte.
    »Überladen«, beendete Nuala den Satz aus meinen Gedanken heraus. »Was auch immer hier vorgeht, muss verdammt gewaltig sein.«
    Ich zuckte zusammen, weil ich glaubte, draußen in der Nacht etwas gehört zu haben. Wir beide erstarrten, blieben still sitzen und lauschten, bis wir uns vergewissert hatten, dass es nur der ferne Lärm der Lastwagen auf dem Highway war – dass wir uns nur verrückt machten.
    Obwohl sich im Wohnheim nichts regte, sprach ich jetzt nicht mehr laut. Ich strich mit den Daumen über Nualas schlanke, nackte Knie und fuhr die Umrisse der Knochen nach, bis zu der

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