Mitternachtslust
sicher nicht verübeln würde.
Tatsächlich fand Melissa auf Anhieb die grüne Schachtel mit dem gesuchten Medikament. Sie ließ ein wenig kaltes Wasser in einen Zahnputzbecher laufen und warf zwei Tabletten hinein. Während sie zusah, wie sich die Pillen sprudelnd auflösten, klappte draußen die Wohnungstür, dann hörte sie von nebenan eine Stimme.
»Ich habe dieses Tuch wochenlang gesucht und will jetzt wissen, warum es in deiner Schublade in der Garderobe lag. Ich bin sicher, es ist nicht zufällig dort hineingeraten, denn dann hättest du es mir längst zurückgegeben. Schließlich habe ich dauernd davon geredet, dass das Tuch verschwunden ist, und allen gesagt, sie sollen danach Ausschau halten.« Die Frauenstimme, die durch die angelehnte Tür ins Bad drang, klang wütend.
»Ich wusste, dass das Tuch dir gehört, Arietta, sonst hätte ich es ja nicht genommen.« Das war Natascha.
»Aber warum hast du mir das Tuch gestohlen? Es ist nicht einmal besonders wertvoll. Ich mag es nur wegen der Farben und weil es einen gewissen sentimentalen Wert für mich besitzt.«
»Ich wollte es dir in den nächsten Tagen wiedergeben. Deshalb hatte ich es ja schon mit hinunter in die Garderobe genommen. Aber bis jetzt hatte sich noch nicht die richtige Gelegenheit ergeben.«
»Ich verstehe dich einfach nicht!« Arietta klang jetzt eher irritiert als wütend.
»Für mich hat das Tuch auch einen sentimentalen Wert, Arietta.« Dieses Geständnis kam als heiseres, zärtliches Flüstern. »Ich liebe den Duft deines Parfüms, den das Tuch verströmt, und der Gedanke, dass der Stoff auf deiner Haut gelegen hat, lässt mich zittern.«
Melissa sah sich entsetzt in dem kleinen Bad um. Es hatte kein Fenster, und selbst wenn es eines gegeben hätte, hätte sie es nicht zur Flucht nutzen können, denn sie befand sich im zweiten Stock. Dabei wollte sie nichts dringender als von hier fort, denn nach dem, was sie bisher gehört hatte, erschien es immer schwieriger, einfach durch die Tür ins Nebenzimmer zu spazieren und zu erklären, sie sei mal eben auf einen kurzen Besuch vorbeigekommen und habe im Bad nach Kopfschmerztabletten gesucht. Eindeutig hatte sie bereits den Zeitpunkt verpasst, sich zu erkennen zu geben.
Hastig setzte sie das Glas an und stürzte die Flüssigkeit mit den aufgelösten Tabletten darin hinunter, damit sie wenigstens das Pochen in ihrer Stirn loswurde.
Im Nebenzimmer war es nach Nataschas Geständnis lange still geblieben.
»Was willst du damit sagen?«, fragte die andere Frau nach einer endlosen Pause.
Schon längst hatte Melissa begriffen, dass es sich bei dieser Frau um ebenjene Arietta handelte, die Natascha seit vielen Jahren hoffnungslos liebte und der sie von Süden nach Norden durch das ganze Land gefolgt war. Mit angehaltenem Atem wartete sie auf Nataschas Antwort.
»Du weißt, was ich damit sagen will.« Natascha hatte ihre Stimme wieder erhoben, als wollte sie deutlich machen, dass sie sich ihrer Worte und Gefühle nicht schämte. »Meinst du, es ist Zufall, dass ich immer dort arbeite, wo du bist? Meinst du, ich bin rein zufällig immer in derselben Stadt, tanze in derselben Bar?«
»Ich weiß nicht … ich habe nie darüber nachgedacht. Du weißt doch, dass ich auf Männer stehe. Ich brauche die Härte ihrer Körper, das Gefühl, wenn sie tief in mir sind, selbst auf der Bühne bringt mich das manchmal fast um den Verstand. Eine Frau kann mir das nicht geben.«
»Hast du es schon einmal ausprobiert?«
Wieder hielt Melissa die Luft an und bewegte sich auf Zehenspitzen durch das kleine Bad, bis sie dicht neben der Tür stand, sodass sie durch den zentimeterbreiten Spalt ins jetzt hell erleuchtete Nebenzimmer sehen konnte. Vielleicht ergab sich ja doch eine Gelegenheit, ungesehen zu verschwinden.
Natascha und die schwarzhaarige Arietta standen einander hoch aufgerichtet gegenüber und maßen sich mit Blicken. Liebevoll und voller Wärme von Nataschas Seite, verwirrt und zwischen Unwillen und Neugier schwankend der Blick aus Ariettas dunklen Augen.
»Nein«, antwortete Arietta zögernd auf Nataschas Frage. »Und ich glaube auch nicht, dass ich es ausprobieren möchte. Ich habe einfach nicht das Bedürfnis.«
»Du hast nicht das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, Nähe und Leidenschaft?« Jetzt flüsterte Natascha nur noch. Melissa las die Worte mehr von ihren Lippen ab, als dass sie sie hören konnte.
»Hast du mich wirklich all die Jahre begehrt?« Arietta machte eine winzige Bewegung auf
Weitere Kostenlose Bücher