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Mitternachtslust

Mitternachtslust

Titel: Mitternachtslust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Winter
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war er mir nicht mehr unheimlich. Im Gegenteil: Wenn ich ihn spürte und sah, empfand ich ein ruhiges und warmes, ein fast vertrautes Gefühl, das trotzdem aufregend und manchmal auch erregend war. Ich wusste, dass er nur gute und freundliche Empfindungen mir gegenüber hegt und immer versuchen wird, mich zu beschützen.«
    Als Melissa stockte, nickte Natascha ermutigend und griff wieder nach ihrer Hand.
    »Aber jetzt beginne ich, mich vor ihm zu fürchten«, fuhr Melissa fort. »Jedes Mal, wenn er auftaucht, bittet er mich, mit ihm zu gehen. Ich weiß nicht einmal genau, wohin er mich mitnehmen will. In die Vergangenheit, ins Jenseits … Eben dorthin, wo er hingehört. Ich wage nicht, ihn zu fragen, wo genau das ist.«
    »Du willst aber nicht mit ihm gehen?«, hakte Natascha nach. Es war typisch für sie, dass sie nicht entsetzt reagierte, sondern diese Frage stellte, weil sie als echte Freundin Melissas Wunsch und Willen respektierte.
    »Es gibt Momente, in denen ich nicht genau weiß, was ich wirklich will. Die Vergangenheit ist sicher. In der Vergangenheit gibt es diesen Mann, der mich für immer und ewig liebt, mir die Treue hält und alles für mich tun würde, wirklich alles. Das hat er hundertfünfzig Jahre lang getan und mir auch jetzt, in der Gegenwart bewiesen. Die Liebe eines Toten ist unsterblich. Die Zukunft ist voller Unsicherheit.«
    »Und voller Leben, denn Leben bedeutet Veränderung«, fügte Natascha hinzu.
    »Ja. Und eigentlich will ich dieses Leben. Ich dachte jedenfalls, ich wollte es riskieren. Aber vor ein paar Tagen war Julius plötzlich morgens in meinem Schlafzimmer. Er streckte seine Hand nach mir aus, und fast wäre ich ihm gefolgt. Ich war wie in Trance, als hätte ich keinen eigenen Willen mehr.« Melissa machte eine Pause und schluckte mühsam. »Ich habe Angst, dass ich eines Tages einen Schritt zu weit in seine Richtung gehe.«
    »Und wenn du einfach ausziehst – oder mit Alexander zusammen in dem Haus lebst? Meinst du nicht, Alexander hätte die Kraft, dich zurückzuhalten?«
    »Ich weiß, dass er die Kraft besitzt. Er scheint sogar zu spüren, wenn Julius mir gefährlich werden könnte. Sehr oft ruft er an, wenn Julius gerade bei mir ist. Das war schon ganz zu Anfang so. Aber er kann mich nicht immer beschützen. Ich muss es selbst schaffen, mich zu befreien. Vor allem kann ich nicht zulassen, dass Julius noch weitere hundertfünfzig Jahre auf seine Annabelle wartet.« Gedankenverloren starrte Melissa in ihr Glas.
    »Was willst du also tun?« Natascha wandte ihren Blick nicht von der Freundin ab.
    »Ich glaube, ich weiß, wie ich ihn erlösen kann. Erlösen – so nennt man es doch wohl, wenn ein Geist aufhört, in der Gegenwart nach seiner Vergangenheit zu suchen?«
    Natascha nickte so ruhig, als würde sie jeden Tag über die Erlösung von Geistern reden.
    »Seit ich ihn zum ersten Mal sah, möchte er sich mit mir … vereinigen. Er möchte Annabelle lieben. In sie eindringen und sie besitzen. Ein, zwei oder drei Mal waren wir dicht davor, aber irgendetwas ist immer dazwischengekommen, ein lautes Geräusch, ein anderer Mensch … Wenn ich nun also mit ihm schlafe – ich glaube, dann wird er gehen. Er wird in die Vergangenheit zurückkehren und endlich seine wahre Annabelle finden. Ich bin ihm das schuldig, nachdem er sogar für mich getötet hat.«
    »Es könnte aber auch sein …« Natascha zögerte, den Satz zu beenden.
    »Es könnte auch passieren, dass er mich dann mit sich nimmt, ich weiß. Genau deshalb möchte ich, dass du verstehst, was geschehen ist, falls mir etwas passiert. Ich möchte, dass du es Alexander erklärst. Dass du ihm sagst, weshalb ich es getan habe und dass ich nicht freiwillig gegangen bin. Würdest du das tun?«
    »Natürlich würde ich das tun, aber ich hoffe, dass ich es nie werde tun müssen. Versprich mir, vorsichtig zu sein!« Wieder streckte Natascha ihren Arm aus und fuhr mit den Fingerspitzen über Melissas Handrücken.
    »Ich verspreche es«, gelobte Melissa ernsthaft, obwohl sie wusste, dass sie nur bei vollem Einsatz eine Chance hatte, Julius die Freiheit zu schenken, um dann selbst glücklich in der Gegenwart leben zu können.
    »Und nun gebe ich uns eine Flasche Champagner aus, und wir trinken auf die Zukunft!«, verkündete sie entschlossen.

21. Kapitel
    Nachdenklich hielt Melissa eines der hochzarten Kristallgläser in das schwache Abendlicht, welches durch das Fenster des kleinen Antiquitätengeschäfts in den dämmrigen Raum

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