Mitternachtslust
Doch der betreffende Mann beachtete sie nicht einmal. Dieser Gedanke machte Melissa wütend. Was bildete der Kerl sich ein? Natascha war eine wunderbare Frau, schön und klug und voller Wärme.
»Wer ist er? Es gibt sicher etwas, das man unternehmen kann. Wenn du willst, spreche ich mit ihm. Wahrscheinlich weiß er nur nicht, was du für ihn empfindest.«
Natascha schüttelte den Kopf. »Nein. Du bist wirklich lieb, aber mach dir bitte keine Gedanken! Ich bin schon so lange daran gewöhnt. Entweder es ist eines Tages von allein vorüber, oder es geschieht doch noch ein Wunder. Ich möchte schon, dass ein Mensch, der mich liebt, das von allein bemerkt und nicht mit der Nase darauf gestoßen werden muss.«
»Aber man muss um sein Glück kämpfen!«
Nataschas Lachen klang spöttisch. »Darf ich dich daran erinnern, dass du drauf und dran warst, vor deinem Glück davonzulaufen? Wenn Alexander nicht so viel Ausdauer und Geduld gehabt hätte, wäre wahrscheinlich alles ganz anders gekommen.«
»Du hast Recht«, gab Melissa beschämt zu.
Eine Weile hingen die beiden Frauen ihren Gedanken nach, dann warf Natascha entschlossen den Kopf in den Nacken. »Wo ich nun schon einmal davon angefangen habe, sollst du auch die ganze Wahrheit erfahren.«
Melissa strich sich eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und beugte sich aufmerksam vor.
»Du nimmst die ganze Zeit an, dass ich von einem Mann rede, nicht wahr?« Ganz gegen ihre Gewohnheit wich Natascha Melissas Blick aus. »Es ist jetzt ungefähr vier Jahre her, seit ich festgestellt habe, dass ich Frauen liebe. Es traf mich wie ein Schlag, als ich sie zum ersten Mal auf der Bühne sah. Ich hatte die Acts der anderen Frauen immer ziemlich erregend gefunden, dachte aber, das sei normal. Bei ihr war es anders. Ich wünschte mir brennend, sie berühren zu dürfen. Ihre wunderbaren Brüste, ihre Schenkel. Schon allein die Vorstellung machte mich wahnsinnig. Ich wünschte mir, meine Finger, meine Zunge in sie hineinzuschieben, sie zu streicheln und zu erregen.« Natascha stockte und sah über Melissas Kopf hinweg in die Ferne.
»Es ist eine deiner Kolleginnen?«
»Arietta. Die schöne Arietta mit dem schwarzen Haar.« Nataschas Lippen verzogen sich zu einem sehnsüchtigen Lächeln.
Fast hätte Melissa sich vor Erstaunen die Hand vor den Mund geschlagen. Ausgerechnet Arietta, die es auf der Bühne voller Inbrunst und Begeisterung mit einem Mann trieb!
»Aber sie … liebt sie nicht Männer?«
Wieder lachte Natascha auf, und dieses Mal klang ihr Lachen bitter. »Natürlich liebt sie Männer. Ich sagte doch, dass ich ein Wunder brauche. Seit vier Jahren warte ich auf dieses Wunder. Ich bin ihr von Frankfurt nach München und von München nach Hamburg gefolgt, aber es scheint ihr nicht einmal aufzufallen, dass ich immer rein zufällig in derselben Bar arbeite wie sie. Wenn sie wenigstens meine Freundin sein könnte! Ich wäre schon zufrieden, wenn sie mir so nah wäre wie du.«
Nie zuvor hatte Melissa Tränen in Nataschas Augen gesehen. Sie erschrak und wusste nicht, was sie tun sollte. Aber bevor sie ein Wort herausbringen oder eine tröstende Geste machen konnte, schob Natascha ihr Kinn vor, wischte sich flüchtig über die Augen und war plötzlich wieder die gelassene, ruhige Frau, die Melissa kannte.
»Worüber wolltest du eigentlich so dringend mit mir sprechen, dass wir uns unbedingt heute treffen mussten?«, erkundigte Natascha sich und nahm sich ein paar Erdnüsse aus dem kleinen Schälchen auf der Bar.
Melissa zögerte, weil sie nach dem vorangegangenen Gespräch fand, dass Natascha genug eigene Probleme hatte.
»Raus damit!«, forderte Natascha sie auf.
»Ich weiß, dass ich dich eigentlich nicht damit belasten sollte …«
»Quatsch!« Energisch kaute Natascha auf den Nüssen herum. »Sind wir nun Freundinnen oder nicht? Ich habe dir doch eben auch erzählt, was mich umtreibt, nicht wahr?«
»Ich bin froh, dass es dich gibt«, erklärte Melissa mit einem tiefen Seufzer.
Natascha legte ihre Hand über Melissas Finger. In ihren Augen konnte Melissa lesen, dass sie Angst hatte, Melissa könnte nach ihrem vorangegangen Geständnis zurückzucken, aber das tat sie nicht. Sie lächelte nur flüchtig, atmete dann tief durch und begann, mit ruhiger Stimme zu reden:
»Es geht um den Geist in meinem Haus. Nachdem ich mich an ihn gewöhnt hatte – oder vielmehr, nachdem ich akzeptiert hatte, dass es so etwas wie Besucher aus der Vergangenheit wirklich gibt –,
Weitere Kostenlose Bücher