Mitternachtspalast
sprechen, Sheere, um dieses ganze Durcheinander zu entwirren.«
»Einverstanden«, sagte Roshan. »Gehen wir zu ihr, und danach entwerfen wir einen Schlachtplan.«
»Gibt es Einwände?«, fragte Ian.
Ein einhelliges Nein hallte von den baufälligen Wänden des Mitternachtspalasts wider.
»Gut. Auf geht’s.«
»Moment«, war plötzlich Michael zu vernehmen.
Die anderen wandten sich dem ewig schweigenden Zeichenkünstler und Bilderchronisten der Chowbar Society zu.
»Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob das alles mit der Geschichte zusammenhängen könnte, die du uns heute Morgen erzählt hast, Ben?«
Ben schluckte. Seit einer halben Stunde stellte er sich genau diese Frage, aber es gelang ihm nicht, eine Verbindung zwischen beiden Ereignissen herzustellen.
»Ich sehe keinen Zusammenhang, Michael«, sagte Seth.
Die anderen dachten über die Sache nach, doch letztlich schienen alle Seths Meinung zu teilen.
»Ich glaube nicht, dass das eine mit dem anderen zu tun hat«, erklärte Ben schließlich. »Wahrscheinlich habe ich nur geträumt.«
Michael sah ihm direkt in die Augen, was er sonst praktisch nie tat, und zeigte ihm dann eine kleine Zeichnung, die er in der Hand hielt. Ben nahm sie in Augenschein und erkannte einen Zug, der durch eine Ebene mit Hütten und Baracken fuhr. Gezogen wurde er von einer eindrucksvollen Lokomotive mit einem Schienenräumer vorne und großen Schornsteinen, die Dampf und Rauch in einen mit schwarzen Sternen übersäten Himmel stießen. Der Zug war in Flammen gehüllt, und durch die Fensterscheiben waren Hunderte gespenstischer Gesichter zu erahnen, Kinder, die ihre Arme ausstreckten und im Feuer um Hilfe schrien. Michael hatte seine Worte detailgetreu zu Papier gebracht. Ben spürte, wie es ihm kalt den Rücken hinunterlief. Er sah seinen Freund an.
»Ich verstehe nicht«, murmelte Ben. »Worauf willst du hinaus?«
Sheere trat zu ihnen und wurde blass, als sie die Zeichnung sah und die Verbindung zwischen Bens Vision und dem Vorfall in St. Patrick’s erahnte, die Michael sichtbar gemacht hatte.
»Das Feuer«, murmelte das Mädchen. »Es ist das Feuer.«
Aryamis Haus war jahrelang verschlossen gewesen, und noch immer hing der Geist Tausender in den Mauern gefangener Erinnerungen in diesem von Büchern und Bildern bewohnten Gebäude.
Unterwegs hatten sie einstimmig beschlossen, dass es am besten wäre, wenn Sheere zuerst allein ins Haus ging, um Aryami zu erzählen, was passiert war, und ihr zu sagen, dass die Freunde mit ihr reden wollten. Außerdem beschloss die Chowbar Society, nur eine begrenzte Zahl ihrer Mitglieder zu dem Treffen mit der alten Frau zu schicken, da sie vermuteten, dass der Anblick von sieben unbekannten Halbstarken ihre Auskunftsfreude merklich hemmen werde. Also wurde entschieden, dass neben Sheere und Ben nur noch Ian bei dem Gespräch dabei sein sollte. Ian akzeptierte auch diesmal die Rolle als Repräsentant der Gesellschaft, auch wenn er argwöhnte, dass man ihm diese Rolle nicht so häufig zuschusterte, weil seine Freunde so große Stücke auf sein Verhandlungsgeschick und seine Vermittlungsgabe hielten, sondern weil er mit seinem harmlosen, angepassten Äußeren gut bei Erwachsenen ankam. Nachdem sie durch die Straßen der
Schwarzen Stadt
gelaufen waren und ein paar Minuten im dschungelartigen Garten von Aryamis Haus gewartet hatten, ging Ian auf ein Zeichen von Sheere mit Ben ins Haus, während die Übrigen draußen warteten.
Das Mädchen führte sie in einen Raum, der nur schwach von einem Dutzend Kerzen erleuchtet war, die in kleinen Gläsern standen. Wachsspritzer bildeten Eisblumen auf dem Glas und trübten das Kerzenlicht. Die drei jungen Leute nahmen gegenüber der alten Frau Platz, die sie schweigend von ihrem Sessel aus beobachtete, und betrachteten zunächst die im Halbdunkel liegenden, mit Stoffen bedeckten Wände und die unter dem Staub von Jahren verborgenen Regale.
Aryami wartete, bis die drei sie ansahen, und beugte sich dann zu ihnen.
»Meine Enkelin hat mir erzählt, was passiert ist«, sagte sie. »Und ich kann nicht behaupten, dass es mich überrascht. Ich lebe seit Jahren mit der Angst, dass so etwas passieren könnte, aber ich hätte nie gedacht, dass es so ablaufen würde. Vor allem müsst ihr wissen, dass das, was ihr erlebt habt, erst der Anfang gewesen ist und es in euren Händen liegt, ob das Unheil seinen Lauf nimmt oder sich verhindern lässt. Ich bin schon alt und habe nicht mehr die Kraft und die
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