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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Gesundheit, um gegen Mächte zu kämpfen, die mir überlegen sind und die ich mit jedem Tag weniger begreife.«
    Sheere nahm die pergamentene Hand ihrer Großmutter und tätschelte sie sanft. Ian sah, wie Ben an den Fingernägeln kaute, und stieß ihm unauffällig den Ellenbogen in die Seite.
    »Es gab eine Zeit in meinem Leben, da glaubte ich, nichts sei stärker als die Liebe. Und ja, die Liebe ist eine Macht, aber verglichen mit der Macht des Hasses ist sie nichtig und klein«, erklärte Aryami. »Ich weiß, dass diese Aussage kein besonders passendes Geschenk zu eurem sechzehnten Geburtstag ist; normalerweise lässt man die jungen Leute ihr Leben leben, ohne dass sie das wahre Gesicht der Welt kennen, aber ich fürchte, dass ihr nicht in den Genuss dieses zweifelhaften Privilegs kommen werdet. Mir ist auch klar, dass ihr an meinen Worten und Einsichten zweifelt, einfach deshalb, weil ich alt bin. Ich kenne diesen Blick von meiner Enkelin. Und nichts ist so schwer zu glauben wie die Wahrheit und nichts so verführerisch wie die Macht der Lüge, vor allem, je schwerer sie wiegt. So ist das Leben. Es liegt an euch, das richtige Maß zu finden. Nachdem das geklärt ist, lasst mich euch sagen, dass ich im Laufe der Jahre so manche Geschichte erlebt habe, aber keine war trauriger und furchtbarer als die, von der ich euch nun erzählen will und in der ihr, ohne es zu wissen, eine wichtige Rolle spielt …«
     
    »Es gab eine Zeit, in der auch ich jung war und all das machte, was man von jungen Leuten erwartet: Heiraten, Kinder kriegen, Schulden machen, Enttäuschungen erleben und die Träume und Prinzipien aufgeben, die man sich immer bewahren wollte. Älter werden, kurz gesagt. Trotzdem meinte es das Schicksal gut mit mir – so erschien es mir zumindest am Anfang – und führte mich mit einem Mann zusammen, über den man nichts Besseres und nichts Schlechteres sagen kann, als dass er ein guter Kerl war. Ehrlich gesagt sah er nicht besonders gut aus. Ich weiß noch, wie meine Schwestern heimlich über ihn lachten, wenn er zu uns nach Hause kam. Er war ein bisschen tollpatschig und schüchtern, und er sah aus, als hätte er die letzten zehn Jahre seines Lebens in einer Bibliothek verbracht. Der Traum jedes Mädchens in deinem Alter, Sheere.
    Mein Verehrer arbeitete als Lehrer an einer öffentlichen Schule im Süden von Kalkutta. Sein Gehalt war miserabel, seine Kleidung nicht minder. Jeden Samstag kam er mich in seinem besten Anzug besuchen, dem einzigen, den er besaß und den er nur zu Schulveranstaltungen anzog und um mir den Hof zu machen. Es dauerte sechs Jahre, bis er sich einen neuen kaufen konnte, aber Anzüge standen ihm nicht besonders gut. Er hatte nicht die Statur dafür.
    Meine beiden Schwestern heirateten zwei gutaussehende Blender, die deinen Großvater herablassend behandelten und mir hinter seinem Rücken begehrliche Blicke zuwarfen, die ich wohl als Aufforderung verstehen sollte, wenigstens für ein paar Minuten mal in den Genuss eines richtigen Mannes zu kommen.
    Später lebten diese Taugenichtse von den Zuwendungen meines Mannes, aber das ist eine andere Geschichte. Er versagte ihnen seine Hilfe nicht, obwohl er diese Schmarotzer durchschaute, so wie er immer in die Seele derer, die ihn umgaben, blicken konnte, und tat so, als hätte er den Spott und die Geringschätzung vergessen, die sie ihm in jungen Jahren entgegengebracht hatten. Ich hätte das nicht getan, aber mein Mann war wie gesagt ein gutmütiger Mensch. Vielleicht zu gutmütig.
    Leider war es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten bestellt, und er verließ mich schon bald, im selben Jahr, als unsere einzige Tochter Kylian geboren wurde. Ich musste sie alleine großziehen und versuchte ihr alles beizubringen, von dem ihr Vater gerne gehabt hätte, dass sie es lernte. Kylian brachte nach dem Tod deines Großvaters Licht in mein Leben. Von ihm hatte sie seine gütige Art und die Gabe, in die Herzen der anderen zu schauen. Aber während ihr Vater unbeholfen und schüchtern gewesen war, strahlte sie Helligkeit und Anmut aus. Ihre Schönheit zeigte sich schon in ihren Gesten, ihrer Stimme, ihren Bewegungen. Als Kind verzauberte sie die Besucher mit ihrem Geplapper, und auch die Leute auf der Straße waren hingerissen von ihr. Wenn ich sah, wie sie mit ihren kaum zehn Jahren auf dem Markt mit den Händlern schäkerte, dachte ich immer, dass dieses Mädchen ein schöner Schwan war, der aus der Erinnerung an meinen Mann, das hässliche

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