Mitternachtspalast
sollst.«
Als sich Thomas Carters verbrannte Lippen schlossen, hatte Ben das Gefühl, dass die Welt um ihn herum zusammenbrach. Was der Direktor von St. Patrick’s ihm gerade anvertraut hatte, erschien ihm völlig unglaublich. Der Schock durch die Explosion musste das Denkvermögen des Rektors ernstlich geschädigt haben, und in seinem Delirium phantasierte er von einer Verschwörung gegen sein Leben und Gott weiß welchen unwahrscheinlichen Gefahren. Alles andere erschien ihm in diesem Moment vollkommen inakzeptabel, vor allem in Anbetracht der Geschichte, die er selbst in der Nacht zuvor geträumt hatte. Eingepfercht in der beklemmenden Enge des Krankenwagens, in dem ein kalter Ätherhauch lag, fragte sich Ben für einen kurzen Augenblick, ob die Bewohner von St. Patrick’s dabei waren, den Verstand zu verlieren, er selbst eingeschlossen.
»Hast du gehört, Ben?«, fragte Carter mit versagender Stimme. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?«
»Ja, Mr Carter«, wisperte der Junge. »Sie sollten sich jetzt keine Sorgen machen.«
Carter öffnete die Augen, und Ben stellte entsetzt fest, was das Feuer angerichtet hatte.
»Ben«, rief Carter mit schmerzverzerrter Stimme. »Tu, was ich dir gesagt habe. Sofort. Geh zu dieser Frau. Schwör es mir.«
Ben hörte die Schritte des rothaarigen Arztes hinter sich und spürte, wie dieser ihn am Arm fasste und energisch aus dem Krankenwagen zog. Carters Hand glitt aus der seinen und baumelte schlaff in der Luft.
»Es reicht jetzt«, sagte der Arzt. »Dieser Mann hat genug ausgestanden.«
»Schwör es mir!«, brüllte Carter und fuchtelte mit der Hand in der Luft.
Der Junge sah bestürzt zu, wie die Ärzte Carter eine weitere Dosis Beruhigungsmittel spritzten.
»Ich schwöre es, Mr Carter«, sagte Ben, ohne genau zu wissen, ob der ihn noch hören konnte. »Ich schwöre es Ihnen.«
Bankim wartete vor dem Krankenwagen auf ihn. Dahinter standen sämtliche Mitglieder der Chowbar Society und alle, die sich in St. Patrick’s aufgehalten hatten, als das Unglück passiert war, und sahen ihn ängstlich und niedergeschlagen an. Ben ging zu Bankim und sah ihm fest in die Augen, die vom Rauch und vom Weinen blutunterlaufen waren.
»Bankim, ich muss etwas wissen«, sagte Ben. »War ein Mann namens Jawahal bei Mr Carter?«
Der Lehrer sah ihn verständnislos an.
»Heute war niemand da«, antwortete er schließlich. »Mr Carter war den ganzen Morgen zu einer Besprechung bei der Gemeinde und kam gegen zwölf zurück. Er sagte, er wolle in sein Büro gehen, um zu arbeiten, und wolle von niemandem gestört werden, auch nicht zum Mittagessen.«
»Bist du sicher, dass er allein im Büro war, als es zur Explosion kam?«, fragte Ben und hoffte, eine zustimmende Antwort zu hören.
»Ja. Ich glaube schon«, antwortete Bankim, aber in seinem Blick war ein Hauch von Zweifel. »Warum fragst du? Was hat er dir gesagt?«
»Bist du ganz sicher, Bankim? Denk genau nach. Es ist wichtig.«
Der Lehrer sah zu Boden und rieb sich die Stirn, als suche er nach geeigneten Worten, um zu beschreiben, woran er sich selbst kaum erinnern konnte.
»Zuerst, unmittelbar nach der Explosion, glaubte ich etwas oder jemanden aus dem Büro kommen zu sehen. Es war alles sehr konfus.«
»Etwas oder jemanden?«, fragte Ben. »Was?«
Bankim blickte auf und zuckte die Schultern.
»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Nichts, was ich kenne, kann sich so schnell bewegen.«
»Ein Tier?«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe, Ben. Wahrscheinlich habe ich es mir nur eingebildet.«
Ben wusste, wie wenig Bankim von Aberglauben und angeblichen Wundergeschichten hielt. Ihm war klar, dass der Lehrer niemals zugeben würde, etwas gesehen zu haben, das sich seinem analytischen Verständnis entzog. Was sein Verstand nicht erklären konnte, durften seine Augen nicht sehen. So einfach war das.
»Und falls es so war«, versuchte es Ben ein letztes Mal, »was hast du dir noch eingebildet?«
Bankim sah zu dem rußgeschwärzten Loch, das dort klaffte, wo Stunden zuvor noch Thomas Carters Büro gewesen war.
»Ich hatte den Eindruck, dass es lachte«, gab Bankim leise zu. »Aber ich werde das vor niemandem wiederholen.«
Ben nickte und ließ Bankim neben dem Krankenwagen stehen, um zu seinen Freunden zu gehen, die ungeduldig darauf warteten, zu erfahren, was er mit Carter gesprochen hatte. Bei ihnen stand Sheere und betrachtete ihn zutiefst beunruhigt, so als sei sie die Einzige, die im Grunde ihres Herzens ahnte,
Weitere Kostenlose Bücher