Mitternachtspalast
Entlein, aufgetaucht war. Er lebte in ihr weiter, in ihren kleinen, unbedeutenden Gesten und der Art, wie sie von der Türschwelle dieses Hauses aus die Menschen beobachtete, um mich dann voller Ernst anzusehen und zu fragen, warum es so viele unglückliche Menschen auf der Welt gebe.
Bald war sie für alle in der
Schwarzen Stadt
die Prinzessin des Lichts, ein Name, den ihr ein Fotograf aus Bombay gegeben hatte. Und schon bald tauchten an jeder Straßenecke Heiratskandidaten auf, die ihr Prinz sein wollten. Es war eine herrliche Zeit, in der sie mir von den lächerlichen Liebesgeständnissen ihrer entflammten Bewerber erzählte und mir die grauenvollen Gedichte zeigte, die sie ihr schrieben, und noch so einiges mehr. Wäre es so weitergegangen, wir hätten irgendwann geglaubt, dass alle jungen Männer in der Stadt bedauernswerte Spinner waren. Doch wie immer erschien jemand auf dem Plan, der alles verändern sollte: dein Vater, der klügste und merkwürdigste Mann, den ich je kennengelernt habe.
Damals wie heute wurde die überwiegende Mehrheit der Ehen von den Familien arrangiert, ein Handel, bei dem der Wille der zukünftigen Ehegatten nichts galt. Die meisten Traditionen sind nichts anderes als krankhafte Auswüchse der Gesellschaft. Mein Leben lang hatte ich mir geschworen, dass Kylian irgendwann den Mann heiraten sollte, den sie sich aus freien Stücken erwählte.
Als dann dein Vater vor dieser Tür stand, war er das genaue Gegenteil von den Wichtigtuern, die deine Mutter umschwirrten wie lästige Fliegen. Er sagte nicht viel, aber wenn, waren seine Worte messerscharf und duldeten keine Widerrede. Er war liebenswürdig, und wenn er wollte, versprühte er einen eigenwilligen Charme, dem man langsam, aber unwiderruflich verfiel. Trotzdem verhielt sich dein Vater fast allen gegenüber distanziert und unterkühlt. Außer bei deiner Mutter. In ihrer Gegenwart war er ein anderer Mensch, verletzlich und beinahe ausgelassen. Ich habe nie herausgefunden, wer er wirklich war, und deine Mutter hat dieses Geheimnis mit ins Grab genommen.
Die wenigen Male, die dein Vater sich dazu herabließ, mit mir zu reden, gab er mir keine großen Erklärungen. Als er sich schließlich entschloss, bei mir um die Hand deiner Mutter anzuhalten, fragte ich ihn, wie er für sie sorgen wolle und was für eine Stellung er habe. Meine Jahre mit deinem Großvater am Rande der Armut hatten dazu geführt, dass ich meiner Tochter eine solche Erfahrung ersparen wollte. Nichts entlarvt den Mythos von der berauschenden Wirkung des Fastens besser als ein leerer Magen.
Dein Vater sah mich an, ohne seine wahren Gedanken preiszugeben, wie er es immer tat, und antwortete dann, er sei von Beruf Ingenieur und Schriftsteller. Er bemühe sich gerade um eine Anstellung bei einer britischen Baugesellschaft, und ein Verleger in Delhi habe ihm einen Vorschuss auf ein Manuskript gezahlt, das er ihm zugesandt hatte. Das roch für mich alles nach Armut und Entbehrungen, und das sagte ich ihm auch. Er lächelte, nahm sanft meine Hand und flüsterte mir etwas zu, das ich nie vergessen werde: ›Mutter, hiermit sage ich es Ihnen zum ersten und zum letzten Mal. Meine Zukunft und die Ihrer Tochter liegen nun ganz in unseren eigenen Händen. Es ist unsere Sache, wie ich sie ernähre und ob ich meinen Weg im Leben mache. Niemand, ob tot oder lebendig, wird sich da einmischen können. Sie können ganz beruhigt sein, was das betrifft, und auf die Liebe vertrauen, die ich für Ihre Tochter empfinde. Doch selbst wenn die Sorge Ihnen den Schlaf rauben sollte, hüten Sie sich, das Band, das Ihre Tochter und mich für immer vereint, ob mit oder ohne Ihre Zustimmung, durch ein Wort, eine Geste oder eine Tat zu beflecken. Sie würden es bis in alle Ewigkeit bereuen.‹
Drei Monate später heirateten sie, und ich sprach nie mehr alleine mit deinem Vater. Die Zukunft gab ihm recht, und er machte sich bald einen Namen als Ingenieur, ohne seine Leidenschaft für die Literatur zu vernachlässigen. Sie zogen in ein Haus nicht weit von hier, das schon vor Jahren abgerissen wurde, während er sein Traumhaus entwarf, einen regelrechten Palast, den er bis ins Detail selbst plante, um mit deiner Mutter dort zu leben. Niemand konnte sich damals vorstellen, was bald darauf passieren würde.
Ich lernte ihn nie richtig kennen. Er gab mir keine Gelegenheit dazu, noch schien er ein Interesse daran zu haben, jemand anderen als deine Mutter an sich heranzulassen. Mich schüchterte seine Art
Weitere Kostenlose Bücher