02 - komplett
1. KAPITEL
„Ich muss Sie wirklich bitten, sich zu verabschieden, Sir.“
Leider wurde die in bestimmtem Tonfall hervorgebrachte Aufforderung keiner Antwort gewürdigt. Der Gentleman, dem sie galt, lief weiterhin so erregt in dem winzigen Salon auf und ab, dass Ruth Hayden um ihren ohnehin schon abgeschabten Teppich fürchtete.
„Dr. Bryant!“ Diesmal klang ihre Stimme ein wenig schärfer. „Bitte ersparen Sie es mir, Sie noch einmal zum Gehen auffordern zu müssen.“
Der Angesprochene blieb endlich stehen, doch nur, um wütend die Arme in die Seiten zu stemmen. „Ich kann es einfach nicht fassen, dass Sie sich weigern, mich auch nur anzuhören. Lassen Sie mich doch wenigstens erklären, welche Vorteile eine solche ...“
„Geben Sie sich keine Mühe“, unterbrach Ruth ihn. „Ich habe sehr wohl verstanden, was Sie mir vorschlagen, und möchte uns beiden jede weitere unangenehme Diskussion ersparen. Ihr Antrag ehrt mich, aber ich kann Sie wirklich nicht heiraten.
Auf Wiedersehen, Sir.“
Eiligen Schrittes ging Ruth zur Salontür, um sie dem Besucher vielsagend offen zu halten.
Als Dr. Ian Bryant gewahr wurde, dass man ihn ohne viel Federlesens hinauskomplimentierte, wich die Überraschung in seiner Miene einem Ausdruck der Wut.
Ihm, einem der Honoratioren des Landstädtchens Willowdene, war eine solche Schmach noch nie widerfahren. Und nun zeigte ihm ausgerechnet eine Frau die kalte Schulter, die man in der hiesigen Gesellschaft allerhöchstens duldete. Wieso begriff sie nicht, dass ihr als seiner Gemahlin wieder alle Türen offenstehen würden?
Dr. Bryant, ein Mann von etwas über dreißig Jahren, sah auf eine gewisse raue Art gut aus. Er war hochgewachsen und besaß breite Schultern. Nun richtete er sich zu voller Größe auf, um sich beleidigt zum Gehen zu wenden.
„Glauben Sie mir, Madam: Hätten Sie mir nicht Anlass zu der Vermutung gegeben, dass Ihnen meine Werbung nicht unwillkommen wäre, so wäre ich heute nicht gekommen.“ Befriedigt nahm er wahr, dass die Spitze ihr Ziel nicht verfehlt hatte.
Röte stieg Ruth ins Gesicht und betonte ihre hohen Wangenknochen noch stärker.
Natürlich erinnerte sie sich gut an den Zwischenfall, auf den er anspielte. Doch sie hob stolz das Kinn und begegnete Dr. Bryants Blick geradeheraus. „Ich fürchte, Sie haben damals das Geschehene missdeutet. Als mein Vater starb, brauchte ich nichts so dringend wie Trost und Zuspruch. Dass Sie mir beides gewährt haben, dafür danke ich Ihnen. Aber nun gibt es nichts weiter zu sagen.“
Sie öffnete ihm die Tür ein Stück weiter, doch Dr. Bryant schien immer noch unwillig, endlich zu gehen. Stattdessen musterte er Mrs. Hayden von Kopf bis Fuß.
Man konnte nicht anders und musste sie als Schönheit bezeichnen, auch wenn sie nicht dem modischen Ideal mädchenhafter Lieblichkeit entsprach. Ihre Züge waren regelmäßig, aber nicht zart, und ihr Teint hätte durchscheinender sein müssen, um als wahrhaft elegant zu gelten. Einige Locken des dichten braunen Haares, das sie im Nacken zu einem Knoten geschlungen hatte, waren der schlichten Frisur entschlüpft und kringelten sich vorwitzig an ihren Schläfen. Unter geschwungenen Brauen sahen schokoladenbraune Augen klar und offen in die Welt.
In Ruth Haydens Benehmen fand sich keine Spur von Koketterie. Sie mochte eben errötet sein und die Lider niedergeschlagen haben, aber Dr. Bryant wusste, dass dies ein Zeichen ihrer Verlegenheit gewesen war. Zu flirten lag nicht in ihrer Natur.
Doch so kühl sie sich auch gab: Ihr sinnlicher Körper schien diese Zurückhaltung Lügen zu strafen. Nur zu gut erinnerte Dr. Bryant sich an den kurzen Moment, in dem er ihre weiblichen Rundungen gespürt hatte. Die vollen Brüste und runden Hüften hatten sich höchst verführerisch an seinen Körper geschmiegt, und er sehnte sich danach, Ruths schmale Taille noch einmal mit seinen Händen zu umfassen.
Mrs. Haydens unzweideutige Zurückweisung versetzte nicht nur seinem Stolz einen empfindlichen Schlag – nein, sie überraschte ihn auch aufs Höchste. Eine Frau in ihrer Lage hätte eigentlich einen Antrag, der ihre gesellschaftliche Position entscheidend zu verbessern versprach, ohne zu zögern, annehmen müssen. Nun sah Dr. Bryant seinen Plan durchkreuzt, diese verführerische Frau in sein Bett zu holen.
Mehr noch: Durch diese Heirat hätte er auch eine neue Mutter für seinen kleinen Sohn ins Haus gebracht. Eine klare Stimme riss ihn aus seinen bitteren Gedanken.
„Ich habe zu
Weitere Kostenlose Bücher