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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Flammen aufgingen.
    Als deine Mutter die Nachricht erhielt, hätte sie dich beinahe verloren. Aber das Schicksal war es leid, Unglück über die Familie zu bringen, und beschloss, dich zu retten. Doch drei Tage später, als es nur noch ein paar Tage bis zur Geburt waren, drangen Jawahal und seine Männer in das Haus ein und verschleppten deine Mutter, nicht ohne vorher zu verkünden, dass die Tragödie von Jheeter’s Gate ihr Werk gewesen sei.
    Leutnant Peake gelang es, sein Leben zu retten und die Männer bis in den Bahnhof zu verfolgen, der nun zu einem verlassenen, verfluchten Ort geworden war, den nach der Unglücksnacht niemand mehr betreten hatte. Jawahal hinterließ eine Nachricht im Haus, in der er schwor, deine Mutter und das Kind zu töten, das sie zur Welt bringen würde. Aber es gab etwas, das nicht einmal er vorausgesehen hatte. Es war nicht ein Kind. Es waren Zwillinge. Eine Junge und ein Mädchen. Ihr beiden …«
     
    Aryami erzählte den Rest der Geschichte: Wie es Peake gelungen war, die Zwillinge zu retten und zu ihr zu bringen, wie sie beschlossen hatte, sie zu trennen und vor dem Mörder ihrer Eltern zu verstecken … Sheere und Ben hörten nicht mehr zu. Ian betrachtete schweigend das blasse Gesicht seines besten Freundes und das von Sheere. Es war kaum eine Regung darauf zu erkennen: Die Geschichte, die sie soeben aus dem Mund der alten Frau gehört hatten, schien sie in Statuen verwandelt zu haben. Ian seufzte und wünschte, er wäre nicht der Auserwählte gewesen, Zeuge dieses denkwürdigen Familientreffens zu werden. Er fühlte sich äußerst unwohl in der Rolle des Eindringlings.
    Doch dann schob Ian seine eigene Bestürzung über das, was er erfahren hatte, beiseite, und seine Gedanken konzentrierten sich auf Ben. Er versuchte sich das Gefühlschaos vorzustellen, das Aryamis Geschichte in ihm ausgelöst haben musste, und verfluchte die Rücksichtslosigkeit der alten Frau, die in ihrer Angst und Verzweiflung Dinge erzählte, die wahrscheinlich noch viel weiterreichende Folgen hatten. Er versuchte, fürs Erste nicht an die Geschichte von dem brennenden Zug zu denken, die Ben am Morgen erzählt hatte. Die Teile dieses Puzzles vervielfältigten sich mit beängstigender Geschwindigkeit.
    Ihm ging nicht aus dem Sinn, wie Ben Dutzende Male gesagt hatte, die Mitglieder der Chowbar Society hätten keine Vergangenheit. Ian befürchtete, dass die Vergangenheit, der Ben nun in diesem Haus begegnete, ihn innerlich zerriss. Sie kannten sich seit Kindertagen, und Ian wusste, dass es in Bens langen schwermütigen Phasen am besten war, einfach bei ihm zu sein, ohne Fragen zu stellen oder zu versuchen, seine Gedanken zu erraten. So wie er seinen Freund kannte, hatte dieser Schlag der Fassade aus Selbstgewissheit und Großspurigkeit, hinter der er sich verschanzte, einen tödlichen Stoß versetzt, eine Wunde, über die Ben nie mehr würde reden wollen.
    Ian legte vorsichtig seine Hand auf Bens Schulter, aber sein Freund schien es nicht zu bemerken.
    Ben und Sheere, die sich noch einige Stunden zuvor mehr und mehr zueinander hingezogen fühlten, schienen auf einmal nicht mehr in der Lage zu sein, sich anzusehen, so als empfänden sie nun, da die Karten neu gemischt waren, eine sonderbare Scham oder Angst, einander überhaupt wahrzunehmen.
    Aryami sah Ian besorgt an. Es war still im Zimmer. Die Augen der alten Frau schienen ihn um Entschuldigung zu bitten, die Entschuldigung des Überbringers schlechter Nachrichten. Ian bedeutete Aryami mit einer leichten Kopfbewegung, das Zimmer zu verlassen. Als die alte Frau zögerte, stand Ian auf und reichte ihr seine Hand. Die Frau nahm seine Hilfe an und folgte ihm ins Nachbarzimmer. Ben und Sheere blieben allein zurück. In der Tür drehte Ian sich noch einmal um und sah seinen Freund an.
    »Wir sind draußen«, sagte er leise.
    Ben nickte, ohne aufzublicken.
     
    Die Mitglieder der Chowbar Society dösten in der drückenden Hitze des Patios vor sich hin, als Ian in Begleitung der alten Frau in der Eingangstür des Hauses erschien. Die beiden sprachen miteinander. Dann nickte Aryami schwach und suchte Schutz im Schatten eines alten Vordachs aus behauenem Stein. Ian ging mit versteinerter, finsterer Miene, die seine Freunde als Zeichen für schlechte Neuigkeiten interpretierten, zu der Gruppe und hockte sich in den Schatten, wo ihm die anderen einen Platz freimachten. Ihre Blicke umschwirrten ihn wie Bienen den Honig. Aryami beobachtete sie traurig aus einigen Metern

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