Mitternachtspalast
niederschlugen.«
»Zukam? Lebt er nicht mehr?«, fragte Ben dazwischen.
»Das ist das Merkwürdigste daran«, erklärte Seth. »Sir Arthur Llewelyn, der Schlächter Seiner Majestät, starb bei dem Brand in Jheeter’s Gate. Was er dort zu suchen hatte, bleibt ein Rätsel.«
Die fünf Jugendlichen sahen sich an, verloren in ihrer Verwirrung.
»Versuchen wir ein wenig Ordnung in die Sache zu bringen«, schlug Ben vor. »Da hätten wir auf der einen Seite den brillanten Ingenieur, der aufgrund seines unverhohlenen Hasses auf die Kolonialherren wiederholt großzügige Angebote der britischen Regierung ausschlug, in ihrem Auftrag zu arbeiten. So weit nachvollziehbar. Aber dann taucht plötzlich dieser mysteriöse Oberst auf der Bildfläche auf und verwickelt ihn in ein Unternehmen, das ihm eigentlich zutiefst zuwider hätte sein müssen: eine Geheimwaffe, ein Experiment zur Unterdrückung der Massen. Und er willigt ein. Das passt nicht zusammen. Es sei denn …«
»Es sei denn, dieser Llewelyn hätte äußerst überzeugende Argumente besessen«, ergänzte Ian.
Sheere hob abwehrend die Hände und widersprach energisch.
»Mein Vater kann unmöglich eingewilligt haben, an so einem militärischen Projekt mitzuwirken. Weder im Auftrag der Briten noch im Auftrag der Bengalen. Mein Vater verachtete das Militär. Für ihn waren Soldaten Mörder, bezahlt von korrupten Regierungen. Er hätte niemals sein Talent auf etwas verwendet, das dazu diente, massenhaft seine eigenen Leute umzubringen.«
Seth sah sie schweigend an und wägte seine Worte sorgfältig ab.
»Aber es gibt Dokumente, Sheere, die belegen, dass er irgendwie daran beteiligt war«, sagte er schließlich.
»Es muss eine andere Erklärung geben«, erwiderte Sheere. »Mein Vater entwarf Bauwerke und schrieb Bücher; er hat keine unschuldigen Menschen ermordet.«
»Idealismus mal beiseite – es gibt sicher noch eine andere Erklärung«, schloss Ben. »Und die müssen wir finden. Kommen wir noch einmal auf Llewelyns Überzeugungskraft zurück. Was könnte er unternommen haben, um den Ingenieur zur Zusammenarbeit zu bewegen?«
»Vielleicht war seine Stärke nicht das, was er unternahm«, erklärte Seth, »sondern das, was er nicht unternahm.«
»Verstehe ich nicht«, sagte Ian.
»Hier ist meine Theorie«, erläuterte Seth. »In den gesamten Unterlagen des Ingenieurs wird sein Jugendfreund Jawahal nicht ein Mal erwähnt, außer in einem Brief von Oberst Llewelyn an Ingenieur Chatterghee vom November 1911 . Darin weist unser Freund, der Oberst, in einem Postskriptum darauf hin, dass er sich, falls Chatterghee eine Beteiligung an dem Projekt ausschlage, gezwungen sähe, den Posten seinem alten Freund Jawahal anzubieten. Meine Vermutung ist folgende: Dem Ingenieur war es gelungen, seine Jugendfreundschaft zu dem mittlerweile inhaftierten Jawahal zu verbergen und Karriere zu machen. Aber einmal angenommen, dieser Llewelyn hätte Jawahal im Gefängnis ausfindig gemacht und der hätte ihm die wahre Natur ihrer Beziehung offenbart. Das hätte Llewelyn in eine exzellente Position gebracht, um den Ingenieur zu erpressen und ihn zur Zusammenarbeit zu zwingen.«
»Woher wissen wir, ob Llewelyn und Jawahal sich kannten?«, fragte Ian.
»Es ist nur eine Vermutung, aber die ist nicht sehr weit hergeholt«, überlegte Seth. »Sir Arthur Llewelyn, Oberst der britischen Armee, beschließt, die Dienste eines brillanten Ingenieurs in Anspruch zu nehmen. Der weigert sich. Llewelyn stellt Nachforschungen an und stößt auf ein finsteres Gerichtsverfahren in der Vergangenheit, in das er verwickelt war. Er beschließt, Jawahal zu besuchen, und der erzählt ihm, was er hören will. Es ist ganz einfach.«
»Ich kann das nicht glauben«, sagte Sheere.
»Manchmal ist die Wahrheit schwer zu glauben. Denk an das, was Aryami erzählt hat«, gab Ben zu bedenken. »Geht De Rozio der Sache weiter nach?«
»Er ist gerade dabei, ja«, bestätigte Seth. »Es sind so viele Schriftstücke, dass man ein ganzes Heer von Bücherwürmern bräuchte, um Klarheit zu schaffen.«
»Ihr habt euch ziemlich gut geschlagen«, urteilte Ian.
»Wir haben nichts anderes erwartet«, bemerkte Ben. »Geht jetzt wieder zu dem Bibliothekar und lasst ihn keine Sekunde aus den Augen. Wir übersehen da irgendetwas.«
»Und was macht ihr?«, fragte Michael, obwohl er die Antwort schon kannte.
»Wir gehen zum Haus des Ingenieurs« erwiderte Ben. »Vielleicht finden wir dort, was wir suchen.«
»Vielleicht ist da
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