Mitternachtspalast
Gedicht.«
»Lies es vor«, forderte Roshan ihn auf.
Das ist die Stadt, die ich liebe, dunkel und tief.
Haus der Nöte, Heimstatt böser Geister,
dort, wo niemand die Türen seines Herzens öffnet.
Im Herzen der Stadt, die ich liebe, lebt die Dämmerung,
Schatten des Bösen und vergessenen Ruhms,
des verkauften Schicksals und gequälter Seelen.
Stadt, die ich liebe, rastlos verloren in der Tiefe des
Turms, der ungewissen Hölle unseres Schicksals,
des mit Blut geschriebenen Fluchs, im
großen Tanz aus Lug und Trug, des
Basars meiner Traurigkeit …
Die sieben schwiegen, und für einen Moment lagen nur das Prasseln des Feuers und das ferne Raunen der Stadt in der Luft.
»Ich kenne dieses Gedicht«, flüsterte Sheere schließlich. »Es ist von meinem Vater. Es steht am Ende meiner Lieblingsgeschichte, der von Shivas Tränen.«
»Genau«, bestätigte Siraj. »Wir haben den ganzen Nachmittag in der Bengalischen Handelsgesellschaft verbracht. Es ist ein unglaubliches Gebäude, eine Ruine fast, mit unzähligen Archiven und Sälen, die unter Dreck und Abfall begraben sind. Es gab Ratten dort, und ich bin sicher, wenn wir nachts dort hingingen, würden wir feststellen, dass sich etwas dort verbirgt …«
»Beschränken wir uns auf das Wesentliche, Siraj«, unterbrach ihn Ben. »Bitte.«
»In Ordnung«, lenkte Siraj ein und vergaß für einen Moment seine Begeisterung für diesen geheimnisvollen Ort. »Also, nach stundenlanger Suche – die ich in Anbetracht der Hitze hier auslasse – fanden wir eine Aktenmappe, die deinem Vater gehörte und die sich seit 1916 im Besitz des Instituts befindet, dem Jahr des Unglücks in Jheeter’s Gate. Darin fand sich auch ein von ihm verfasstes Buch. Wir durften es zwar nicht mitnehmen, aber wir konnten es näher in Augenschein nehmen. Und wir hatten Glück.«
»Wieso Glück?«, warf Ben ein.
»Du solltest es eigentlich als Erster sehen. Neben das Gedicht hat jemand – wahrscheinlich Sheeres Vater – mit Tinte ein Haus gezeichnet«, erklärte Siraj geheimnisvoll lächelnd und hielt ihm das Blatt mit dem Gedicht hin.
Ben betrachtete die Verse und zuckte dann mit den Schultern.
»Ich sehe nur Wörter«, sagte er.
»Du lässt nach, Ben. Schade, dass Isobel nicht hier ist, um es zu sehen«, spottete Siraj. »Lies noch einmal ganz aufmerksam.«
Ben folgte Sirajs Anweisung und runzelte die Stirn.
»Ich geb’s auf. Diese Verse haben keine sichtbare Form oder Struktur. Es ist einfach nur willkürlich getrennte Prosa.«
»Genau«, bestätigte Siraj. »Und welcher Regel folgt diese Willkür? Anders gesagt, weshalb trennt er die Zeilen genau dort, wenn er auch jede andere Stelle wählen könnte?«
»Um die Wörter zu trennen?«, riet Sheere.
»Oder um sie zusammenzubringen …«, murmelte Ben vor sich hin.
»Nimm das erste Wort jeder Zeile und mach einen Satz daraus«, forderte Roshan ihn auf.
Ben betrachtete erneut das Gedicht und sah dann seine Freunde an.
»Lies immer nur das erste Wort«, sagte Siraj.
»
Das Haus dort im Schatten des Stadtturms des großen Basars
«, las Ben.
»Es gibt mindestens sechs Basare in Nord-Kalkutta«, stellte Ian fest.
»Und wie viele davon besitzen einen Turm, der einen Schatten auf die umliegenden Häuser werfen kann?«, fragte Siraj.
»Ich weiß nicht«, antwortete Ian.
»Aber ich«, sagte Siraj. »Zwei: der Syam Basar und der Machua Basar im Norden der
Schwarzen Stadt
.«
»Trotzdem«, wandte Ben ein. »Der Schatten, den der Turm wirft, wird im Laufe eines Tages um 180 Grad wandern und sich ständig verändern. Dieses Haus könnte überall in Nord-Kalkutta stehen, was dasselbe ist, als würde es irgendwo in Indien stehen.«
»Wartet mal«, unterbrach Sheere. »In dem Gedicht ist von der Dämmerung die Rede. Es heißt wörtlich: ›Im Herzen der Stadt, die ich liebe, lebt die Dämmerung‹.«
»Habt ihr das überprüft?«, fragte Ben.
»Klar doch«, antwortete Roshan. »Kurz vor Sonnenuntergang ist Siraj zum Syam Basar gegangen und ich zum Machua Basar.«
»Und?«, drängten alle.
»Am Machua Basar fällt der Schatten des Turms auf einen leerstehenden ehemaligen Laden.«
»Und bei dir, Roshan?«, fragte Ian.
Der Junge lächelte, nahm einen halbverbrannten Holzscheit aus dem Feuer und zeichnete die Umrisse eines Turms in die Asche.
»Am Syam Basar weist der Schatten des Turms wie ein Uhrzeiger auf das Tor eines hohen Eisenzauns, hinter dem sich ein mit Palmen und Büschen überwucherter Garten befindet. Hinter
Weitere Kostenlose Bücher