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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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den Palmwipfeln konnte ich den Turm eines Hauses erkennen.«
    »Das ist ja phantastisch!«, rief Sheere.
    Ben jedoch war Roshans besorgter Gesichtsausdruck nicht entgangen.
    »Wo liegt das Problem, Roshan?«, fragte er.
    Roshan schüttelte langsam den Kopf und zog die Schultern hoch.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Etwas an dem Haus hat mir nicht gefallen.«
    »Hast du was gesehen?«, fragte Seth.
    Roshan verneinte. Ian und Ben sahen sich gleichzeitig an, ohne ein Wort zu sagen.
    »Ist schon mal jemandem der Gedanke gekommen, dass das alles eine Falle sein könnte?«, fragte Roshan.
    Ian und Ben wechselten erneut einen stummen Blick und nickten. Die beiden dachten dasselbe.
    »Riskieren wir es«, sagte Ben und legte alle Überzeugung in seine Stimme, zu der er fähig war.
     
    Aryami Bosé zündete erneut ein Streichholz an und hielt es an das Ende der weißen Kerze, die vor ihr stand. Das flackernde Licht der Flamme erfüllte den dunklen Raum mit unscharfen Konturen, während sie das Streichholz mit zitternden Händen zur Kerze führte. Der Docht fing langsam Feuer, und ein heller Schein breitete sich rings um sie aus. Die alte Frau blies das Streichholz aus, das in einem gespenstisch blauen Rauch erlosch, der langsam in die Dunkelheit aufstieg. Ein sanfter Lufthauch streichelte ihren Nacken. Aryami drehte sich um. Ein kalter, von beißendem Gestank begleiteter Windstoß bauschte ihr Gewand und blies die Kerze aus. Wieder hüllte Dunkelheit sie ein, und die alte Frau hörte, wie zweimal kurz an die Haustür geklopft wurde. Aryami ballte die Fäuste und bemerkte, wie ein schwaches, rötliches Licht durch die Ritzen der Tür drang. Es klopfte erneut, lauter diesmal. Die alte Frau spürte, wie ihr kalter Schweiß auf die Stirn trat.
    »Sheere?«, rief sie leise.
    Der Klang ihrer Stimme verlor sich in der Dunkelheit des Hauses. Sie erhielt keine Antwort, und Sekunden später war erneut ein zweimaliges Klopfen zu hören.
    Aryami tastete blindlings über den Kaminsims, wo die verlöschende Glut ihr ein wenig Licht spendete. Sie warf mehrere Gegenstände herunter, bis ihre Finger schließlich die lange Metallscheide des Dolches ertasteten, den sie dort aufbewahrte. Sie zog die Waffe heraus und betrachtete im Widerschein der Glut die goldglänzende, gebogene Klinge. Ein schneidender Lichtstrahl drang unter der Haustür hindurch. Aryami atmete tief durch und ging langsam zur Tür. Dort blieb sie stehen und hörte draußen das Rauschen des Windes in den Blättern des Patios.
    »Sheere?«, wisperte sie noch einmal, ohne eine Antwort zu erhalten.
    Sie umklammerte den Griff des Dolches, legte vorsichtig die linke Hand auf die Türklinke und drückte sie nach unten. Der Schließmechanismus ließ nach seinem jahrelangen Dornröschenschlaf ein rostiges Kreischen vernehmen. Die Tür öffnete sich langsam, und das bläuliche Licht des Nachthimmels fiel wie ein Fächer ins Innere des Hauses. Draußen war niemand. Die Sträucher wogten hin und her wie ein Meer aus Hunderten kleiner, trockener Blätter, die leise wisperten. Aryami sah sich zu beiden Seiten der Tür um, aber der Patio war verwaist. Doch dann stieß sie gegen irgendetwas, und als sie nach unten sah, entdeckte sie ein kleines Körbchen zu ihren Füßen. Aryami ging in die Hocke und zog vorsichtig das Tuch beiseite, mit dem es bedeckt war.
    Darin befanden sich zwei Wachsfigürchen in Gestalt zweier nackter Babys. Aus ihren Köpfen ragte das Ende eines brennenden Stoffdochts, und die beiden Püppchen schmolzen wie Kerzen in einer Kirche. Aryami überlief ein Schauder. Sie gab dem Korb einen Schubs, so dass er die ausgetretenen Stufen hinunterkullerte. Dann richtete sie sich auf und wollte gerade wieder ins Haus gehen, als sie durch den langen Korridor, der ans andere Ende des Hauses führte, rätselhafte Schritte näherkommen hörte. Die alte Frau spürte, wie der Dolch ihren Händen entglitt, und schlug die Tür hinter sich zu.
    Rückwärts ging sie die Stufen hinunter, da sie es nicht wagte, der Tür den Rücken zuzukehren, und stolperte dabei über den Korb, den sie gerade hinuntergestoßen hatte. Auf dem Boden liegend, beobachtete Aryami entsetzt, wie Flammen unter der Tür hervorzüngelten und das alte Holz Feuer fing wie Papier. Sie schleppte sich ein paar Meter weiter zu den Büschen und stand mühsam auf, während sie ohnmächtig zusehen musste, wie Flammen aus den Fenstern des Hauses schlugen und das Gebäude in einer tödlichen Umarmung

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