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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Dokumente durch, während er sich mit zusammengekniffenen Augen in den Inhalt vertiefte. Seth beobachtete sein Gesicht und hoffte angespannt auf ein Wort oder einen Hinweis, die Licht in die Sache brachten. De Rozio verweilte bei einem Blatt, das mehrere Siegel zu tragen schien, und hielt es ins Licht.
    »Sieh an, sieh an«, murmelte er.
    »Was ist, Mr De Rozio?«, drängte Seth. »Was haben Sie gefunden?«
    De Rozio sah auf und verzog das Gesicht zu einem breiten Lächeln.
    »Ich halte hier ein von Oberst Arthur Llewelyn unterzeichnetes Dokument in den Händen. Darin ordnet er unter Berufung auf Gründe höchster militärischer Geheimhaltung an, das Gerichtsverfahren mit der Aktennummer 089861 /A vor der vierten Kammer des Obersten Gerichts von Kalkutta auszusetzen, in dem der Bürger Lahawaj Chandra Chatterghee, Ingenieur, der Beteiligung und der Verschleierung einer Straftat sowie der Unterschlagung von Beweismitteln in einem Mordfall beklagt wird. Er ordnet außerdem an, das Verfahren an das Oberste Militärgericht Seiner Majestät zu übergeben. Gleichzeitig werden sämtliche vorherigen Gerichtsentscheidungen sowie alle von der Verteidigung und Staatsanwaltschaft zusammengetragenen Beweise hinfällig. Datum: 14 . September 1911 .«
    Michael und Seth sahen Mr De Rozio ungläubig an, ohne ein Wort herauszubringen.
    »Also, Jungs«, schloss der Bibliothekar. »Wer von euch kann Kaffee kochen? Es könnte eine lange Nacht werden …«
     
    Die vier Räder mit den Alphabeten quietschten kaum hörbar, und nach einigen Sekunden schwangen langsam die beiden Flügel der schweren Eisentür zurück. Abgestandene Luft schlug ihnen entgegen. Ian wurde blass.
    »Sie ist offen«, flüsterte er ängstlich.
    »Großartig beobachtet«, bemerkte Ben.
    »Das ist nicht der Moment für Scherze«, entgegnete Ian. »Wir wissen nicht, was da drin ist.«
    Ben nahm seine Streichholzschachtel heraus und rasselte damit.
    »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir es herausgefunden haben«, behauptete er. »Willst du als Erster reingehen?«
    Ian bedachte ihn mit einem störrischen Lächeln.
    »Bitte, nach dir.«
    »Ich gehe vor«, sagte Sheere und verschwand im Haus, ohne die Antwort der beiden Freunde abzuwarten.
    Ben zündete rasch ein weiteres Streichholz an und folgte ihr. Ian warf einen letzten Blick in den Nachthimmel, als befürchtete er, ihn zum letzten Mal zu sehen, dann atmete er tief durch und betrat das Haus des Ingenieurs. Unmittelbar darauf schloss sich die Tür genauso leise und präzise, wie sie ihnen den Zugang gewährt hatte.
    Die drei blieben nebeneinander stehen, und Ben hob das Streichholz hoch. Vor ihren Augen zeigte sich eine beeindruckende Szenerie, die all ihre Erwartungen übertraf.
    Sie befanden sich in einem Raum mit mächtigen byzantinischen Säulen, über denen sich eine Kuppel wölbte. Auf einem monumentalen Deckenfresko waren Hunderte von Gestalten aus der Hindu-Mythologie zu erkennen, eine nicht enden wollende Bilderchronik, die sich kreisförmig um eine zentrale Figur gruppierte, die als Relief in der Mitte der Szenen thronte: die Göttin Kali.
    An den halbrunden Wänden des Raumes wuchsen Bücherregale bis in über drei Meter Höhe empor. Den Boden zierte ein Mosaik aus glänzendem schwarzem Email und runden Bergkristallen, das die Illusion eines Firmaments mit Sternbildern und Gestirnen erzeugte. Ian betrachtete das Ensemble eingehend und erkannte mehrere Sternbilder wieder, von denen Bankim ihnen in St. Patrick’s erzählt hatte.
    »Das müsste Seth sehen …«, flüsterte Ben.
    Am anderen Ende des Raumes, jenseits dieses Sternenteppichs, der das bekannte Universum darstellte, wand sich eine Wendeltreppe dem ersten Stock des Hauses entgegen.
    Bevor Ben sich versah, versengte die Streichholzflamme seine Finger, und die drei standen wieder in absoluter Finsternis. Die Sternbilder zu ihren Füßen allerdings leuchteten immer noch wie das nächtliche Firmament.
    »Unglaublich«, murmelte Ian vor sich hin.
    »Warte mal, bis du das obere Stockwerk siehst«, sagte Sheeres Stimme ein paar Meter entfernt.
    Ben zündete ein weiteres Streichholz an, und die beiden Jungen stellten fest, dass das Mädchen sie schon am Fuß der Wendeltreppe erwartete. Ben und Ian folgten ihr wortlos.
    Die Wendeltreppe lag in einem Treppenturm, der an die Laternen erinnerte, die sie auf Stichen von französischen Loireschlössern gesehen hatten. Als sie nach oben blickten, hatten sie das Gefühl, sich im Inneren eines großen

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