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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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umschlangen.
    Aryami rannte auf die Straße und blickte erst zurück, als sie an die hundert Meter von dem Ort entfernt war, der einmal ihr Zuhause gewesen war. Wie ein Scheiterhaufen loderten die Flammen hoch und spien Funken und glühende Asche in den Himmel. Allmählich erschienen die Bewohner des Viertels an den Fenstern und auf der Straße, um verängstigt das riesige Feuer zu betrachten, das binnen Sekunden ausgebrochen war. Aryami hörte, wie das Dach mit Getöse in die Flammen stürzte. Die Gesichter der Schaulustigen, die sich auf der Straße versammelt hatten, wurden von einem heftigen, scharlachroten Flackern erleuchtet, während sie sich fassungslos anblickten, ohne zu begreifen, was geschehen war.
    Aryami Bosé vergoss bittere Tränen um das Haus, wo sie als junges Mädchen gelebt hatte und wo ihre Tochter geboren war, und verabschiedete sich für immer von ihm, bevor sie in den belebten Straßen Kalkuttas verschwand.
     
    Wenn man den Hinweisen des verschlüsselten Textes nachging, den Siraj entziffert hatte, war es nicht schwer, den genauen Standort des Hauses herauszufinden. Diesen Hinweisen zufolge, die Roshans Beobachtungen vor Ort bestätigten, befand sich das Haus Ingenieur Chandra Chatterghees in einer ruhigen Seitenstraße zwischen der Jatindra Mohan Avenue und der Acharya Profullya Road, ungefähr eine Meile nördlich des Mitternachtspalasts.
    Sobald Siraj sah, dass seine Freunde das Ergebnis seiner Nachforschungen richtig verstanden hatten, drängte er darauf, keine weitere Zeit zu verlieren und sich auf die Suche nach Isobel zu machen. Es nützte nichts, dass alle versuchten, ihn zu beruhigen und dazu zu überreden, die Rückkehr des Mädchens abzuwarten, und so hielt Roshan schließlich sein Versprechen und bot sich an, ihn zu begleiten. Nachdem sie ausgemacht hatten, sich am Haus von Ingenieur Chandra Chatterghee wiederzutreffen, sobald sie etwas von Isobel wussten, verschwanden die beiden in der Nacht.
    »Und was habt ihr zwei herausgefunden?«, wandte sich Ian an Seth und Michael.
    »Ich hätte auch gerne so spektakuläre Ergebnisse wie Siraj vorzuweisen, aber wir haben nur einen ganzen Haufen Ungereimtheiten gefunden«, antwortete Seth und berichtete dann von ihrem Besuch bei Mr De Rozio, den sie mit den Nachforschungen im Museum allein gelassen hatten mit dem Versprechen, in ein, zwei Stunden wieder zurück zu sein, um ihm zu helfen.
    »Was wir herausgefunden haben, bestätigt bislang nur die Geschichte, die Sheeres – pardon, eure – Großmutter erzählt hat. Zumindest teilweise«, erklärte Seth.
    »Es gibt blinde Flecken in der Geschichte des Ingenieurs, die nicht so leicht zu klären sind«, ergänzte Michael.
    »Genau«, bestätigte Seth. »Ich glaube sogar, das Interessante ist nicht das, was wir herausgefunden haben, sondern das, was wir nicht herausfinden konnten.«
    »Das musst du erklären«, forderte Ben.
    »Also«, begann Seth und rieb sich die Hände am Feuer. »Die Geschichte Ingenieur Chatterghees ist dokumentiert ab seinem Eintritt in die Staatliche Handelsgesellschaft. Es gibt Unterlagen, die belegen, dass er mehrere Angebote der britischen Regierung ablehnte, im Auftrag der Armee am Bau von Brücken und einer Eisenbahnlinie mitzuwirken, die Bombay zur ausschließlichen militärischen Nutzung mit Delhi verbinden sollten.«
    »Aryami hat von seiner Abneigung gegen die Briten erzählt«, bemerkte Ben. »Er gab ihnen die Schuld an einem Großteil der Missstände, die im Land herrschten.«
    »Genau«, bestätigte Seth. »Aber das Komische ist, dass Chandra Chatterghee trotz seiner unverhohlenen Verachtung, für die es zahlreiche öffentliche Belege gibt, zwischen 1914 und 1915 an einem geheimnisvollen Projekt der britischen Militärregierung beteiligt war, ein Jahr, bevor er bei der Tragödie von Jheeter’s Gate starb. Es handelte sich um eine obskure Geschichte mit einem sonderbaren Namen:
Feuervogel.«
    Sheere hob die Augenbrauen und beugte sich erstaunt zu Seth.
    »Was war das, der Feuervogel?«, fragte sie.
    »Schwer zu sagen«, antwortete Seth. »Mr De Rozio meint, es könne sich um ein militärisches Experiment gehandelt haben. Ein Teil der offiziellen Korrespondenz, die sich in den Dokumenten des Ingenieurs findet, ist von einem gewissen Oberst Sir Arthur Llewelyn unterzeichnet, dem De Rozio zufolge die zweifelhafte Ehre zukam, die Truppen befehligt zu haben, die die friedlichen Demonstrationen der Unabhängigkeitsbewegung zwischen 1905 und 1915

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