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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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der vergangenen Nacht nur ein paar Stunden Ruhe gegönnt hatte. Dem Licht nach zu urteilen, das in das Zimmer im Westturm von Ingenieur Chatterghees Haus fiel, mussten sie den Meridian zum Nachmittag überschritten haben. Der hartnäckige Hunger, der ihn schon am Morgen gequält hatte, rumorte nach wie vor in seinem Magen. Oder wie Ben immer in einer Parodie auf Tagore witzelte, dessen Palast nur wenige Meter entfernt stand: Der Weise hört zu, wenn der Magen spricht.
    Ian stahl sich leise aus dem Zimmer und stellte fest, dass Sheere und Ben beneidenswert tief in Morpheus Armen ruhten. Und er vermutete, dass sich selbst Sheere nach dem Aufwachen auf alles Essbare stürzen würde, das ihr zwischen die Finger kam. Was Ben betraf, so konnte es daran keinen Zweifel geben. Jetzt gerade träumte sein Freund wahrscheinlich von einem Tablett voller kulinarischer Köstlichkeiten und einer sündigen Nachspeise aus Limettensaft und gekochter Milch, nach dem die vernaschten Bengalen ganz verrückt waren.
    Da es der Schlaf schon besser mit ihm gemeint hatte, als zu erwarten gewesen war, beschloss er, nach draußen zu gehen und etwas Essbares zu besorgen. Mit etwas Glück, dachte er, würde er zurück sein, bevor die beiden auch nur Zeit hatten, zu gähnen.
    Er ging durch den Raum mit dem großen Stadtmodell zur Wendeltreppe und stellte erleichtert fest, dass das Haus bei Tageslicht wesentlich weniger bedrückend wirkte. Der erste Stock lag nach wie vor im Dämmerlicht, und Ian registrierte, dass das Haus erstaunlich gut die Außentemperatur abhielt. Er konnte sich unschwer vorstellen, welch drückende Hitze jenseits dieser Mauern herrschte, wohingegen das Haus des Ingenieurs im Land des ewigen Frühlings zu liegen schien. Er hüpfte über mehrere Galaxien auf dem Mosaikbild zu seinen Füßen hinweg und öffnete die Eingangstür, darauf vertrauend, dass er die Kombination des eigenwilligen Schlosses nicht vergaß, das Chandra Chatterghees Privatheiligtum schützte.
    Die Sonne brannte unbarmherzig auf den verwilderten Garten herunter, und der Teich, der ihm in der Nacht wie aus poliertem Ebenholz erschienen war, warf nun glitzernde Lichtreflexe auf die Fassade. Ian ging zu dem geheimen Tunnelzugang unter der Holzbrücke und gab sich für einen Moment der Illusion hin, dass sich an einem so strahlenden, heißen Sommertag die Bedrohungen der vergangenen Nacht in Nichts auflösten wie ein Eisblock in der Wüste.
    Nachdem er den kurzen Moment innerer Ruhe genossen hatte, kletterte er in den Tunnel, und bevor der beißende Gestank in seine Lungen dringen konnte, stand er schon wieder auf der Straße. Er warf im Geiste eine Münze und beschloss, seine Nahrungssuche im Westen zu beginnen.
    Während er summend durch die menschenleere Straße davonging, konnte er nicht ahnen, dass sich die vier Räder des Schlosses erneut unendlich langsam zu drehen begonnen hatten. Doch diesmal lautete das Wort, das sich in der Vertikalen zeigte, nicht Dido, sondern bildete den Namen einer anderen, sehr viel näheren Göttin: Kali.
     
    Ben glaubte im Schlaf ein lautes Krachen zu hören und schreckte in dem stockdunklen Zimmer hoch, in dem er sich hingelegt hatte. Nach der ersten Benommenheit, die folgt, wenn man aus einem langen, tiefen Schlummer gerissen wird, stellte er überrascht fest, dass bereits Nacht war und sie über zwölf Stunden geschlafen haben mussten. Doch als er erneut das dumpfe Krachen hörte, das er schon im Schlaf wahrgenommen hatte, begriff er, dass nicht die Nacht daran schuld war, dass kein Tageslicht ins Zimmer drang. Etwas ging im Haus vor sich. Die Fensterläden klappten mit Wucht zu und schlossen das Haus hermetisch ab wie eine Schleuse. Ben sprang aus dem Bett und rannte zur Tür, um nach seinen Freunden zu sehen.
    »Ben!«, hörte er Sheere schreien.
    Er stürzte zu ihrem Zimmer und riss die Tür auf. Seine Schwester kauerte zitternd neben der Tür. Er nahm sie in den Arm und führte sie aus dem Raum, während er entsetzt beobachtete, wie die Fensterläden des Hauses nacheinander zufielen wie bleierne Augenlider.
    »Ben«, wimmerte Sheere. »Etwas war im Zimmer, während ich schlief, und hat mich berührt.«
    Ben merkte, wie es ihm eiskalt den Rücken hinunterlief. Er führte Sheere in die Mitte des Raums mit dem Modell der Stadt. Dann wurde es stockfinster um sie herum. Ben nahm Sheere fest in die Arme und redete ihr gut zu, sie solle ganz still sein, während er in die Dunkelheit spähte, um herauszufinden, ob sich irgendwo

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