Mitternachtspalast
alle Bestattungsplätze aus Hygienegründen vor die Tore der Stadt zu verlagern. Ironischerweise mussten die Schotten, die über Jahrzehnte den gesamten Handel in Kalkutta mit harter Hand kontrolliert hatten, feststellen, dass sie sich eine Bestattung neben ihren englischen Nachbarn nicht leisten konnten, und sahen sich gezwungen, einen eigenen Friedhof zu eröffnen. In Kalkutta weigerten sich die Reichen selbst im Tod, den Ärmeren ihr Land abzutreten.
Als Seth vor den Ruinen von Curzon Fort stand, wurde ihm klar, warum das Gefängnis noch nicht den üblichen wilden Abbrucharbeiten in der Stadt zum Opfer gefallen war. Was vom Gebäude übrig war, schien nur noch am sprichwörtlichen seidenen Faden zu hängen und drohte bei der geringsten Manipulation auf das Menschengewühl in den Straßen zu stürzen. Das Feuer vor vielen Jahren schien das Gefängnis verschlungen zu haben, als sei es aus Pappmaché. Die Flammen hatten ungewöhnlich heftig gewütet, Mauern gesprengt und Streben und Dachbalken zerstört. Durch die Fenster waren die verkohlten Decken zu sehen, die an das kranke Zahnfleisch eines alten Tieres erinnerten.
Seth ging zum Eingang des Gebäudes und fragte sich, wie er in diesem Haufen aus verkohltem Holz und Schutt etwas herausfinden sollte. Mit Sicherheit waren hier keine weiteren Hinweise auf die Vergangenheit zu finden als die Gitterstäbe und die Zellen, die sich damals in tödliche Öfen verwandelt hatten.
»Kommst du zu Besuch, mein Junge?«, raunte eine brüchige Stimme hinter ihm.
Seth fuhr erschrocken herum und stellte fest, dass die Frage von einem alten, zerlumpten Mann kam, dessen Füße und Hände voller schwärender Wunden in fortgeschrittenem Stadium waren. Dunkle Augen beobachteten ihn nervös aus einem schmutzstarrenden Gesicht, das fast hinter dem weißen Zottelbart verschwand, der aussah, wie mit dem Messer abgesäbelt.
»Ist das hier die Haftanstalt Curzon Fort, Mister?«, erkundigte sich Seth.
Der Bettler machte große Augen, als er das ungewohnte »Mister« hörte, mit dem ihn der Junge anredete, und seine pergamentenen Lippen verzogen sich zu einem zahnlosen Lächeln.
»Das, was davon übrig ist«, antwortete er. »Bist du auf der Suche nach einer Bleibe?«
»Ich bin auf der Suche nach einer Information«, antwortete Seth, während er versuchte, das Lächeln des Bettlers höflich zu erwidern.
»Wir leben in einer Welt von Ignoranten. Niemand ist auf der Suche nach Informationen. Nur du. Was willst du denn wissen, mein Junge?«
»Kennen Sie diesen Ort?«, erkundigte sich Seth.
»Ich lebe hier«, erwiderte der Bettler. »Es war einmal mein Gefängnis. Heute ist es mein Zuhause. Die Vorsehung hat es gut mit mir gemeint.«
»Sie haben in Curzon Fort gesessen?«, fragte Seth sichtlich erstaunt.
»Es gab eine Zeit, in der ich große Fehler begangen habe … und ich musste dafür bezahlen«, lautete die Antwort des Bettlers.
»Wie lange waren Sie in diesem Gefängnis, Mister?«
»Bis zum Schluss.«
»Sie waren in der Nacht des Brandes hier?«
Der Bettler schob die Lumpen beiseite, die seinen Körper bedeckten, und der Junge betrachtete entsetzt die tiefrot vernarbte Brandwunde, die Brust und Hals bedeckte.
»Dann können Sie mir vielleicht weiterhelfen«, sagte er. »Zwei Freunde von mir sind in Gefahr. Erinnern Sie sich an einen Gefangenen namens Jawahal?«
Der Bettler schloss die Augen, dann schüttelte er bedächtig den Kopf.
»Keiner von uns nannte sich hier bei seinem wahren Namen, mein Junge«, erklärte er. »Den Namen ließen wir zusammen mit der Freiheit am Eingangstor zurück und hofften darauf, dass wir ihn nach der Entlassung unbefleckt und frei von Erinnerungen wieder annehmen könnten, wenn wir ihn von dem Grauen dieses Ortes fernhielten. So war es natürlich nie …«
»Der Mann, von dem ich spreche, war ein verurteilter Mörder«, ergänzte Seth. »Er war damals noch jung. Er hat das Feuer gelegt, das das Gefängnis zerstörte, und ist dann geflohen.«
Der Bettler sah ihn überrascht und gleichzeitig belustigt an.
»Das Feuer gelegt?«, rief er ungläubig. »Das Feuer ist im Heizkessel ausgebrochen. Ein Ventil ist explodiert. Ich war nicht in meiner Zelle, sondern bei der Arbeit. Das hat mich gerettet.«
»Dieser Mann hat den Brand gelegt«, beteuerte Seth, »und jetzt will er meine Freunde umbringen.«
Der Bettler wiegte skeptisch den Kopf, aber er nickte.
»Vielleicht, mein Junge, aber was macht das schon aus? Ich würde mir jedenfalls keine
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