Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
Vom Netzwerk:
Sorgen um deine Freunde machen. Dieser Mann, dieser Jawahal, wird ihnen nicht mehr viel anhaben können.«
    Seth runzelte die Stirn.
    »Wie kommen Sie darauf, Mister?«, fragte er verwirrt.
    Der Bettler lachte.
    »Junge, in der Brandnacht war ich nicht einmal so alt wie du. Und ich war der Jüngste im Gefängnis«, antwortete er. »Wer auch immer dieser Mann ist, er müsste mittlerweile über hundert Jahre alt sein.«
    Jetzt war Seth völlig durcheinander.
    »Einen Moment«, sagte er. »Ist das Gefängnis nicht 1916 abgebrannt?«
    » 1916 ?« Der Bettler lachte erneut. »Junge, wo kommst du denn her? Curzon Fort brannte in der Nacht zum 26 . April 1857 nieder. Vor genau fünfundsiebzig Jahren.«
    Seth sah den Bettler mit offenem Mund an. Der musterte ihn neugierig und ein wenig mitleidig, als er die Bestürzung in seinem Gesicht sah.
    »Wie heißt du, Junge?«, fragte der Mann.
    »Seth, Mister«, antwortete der Junge blass.
    »Tut mir leid, dass ich dir nicht helfen konnte, Seth.«
    »Doch, das haben Sie«, widersprach der Junge. »Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mister?«
    Die Augen des Bettlers glänzten in der Sonne, und ein bitteres Lächeln erschien auf seinen Lippen.
    »Kannst du die Zeit zurückdrehen, Seth?«, fragte er und betrachtete seine Handflächen.
    Seth schüttelte langsam den Kopf.
    »Dann kannst du nichts für mich tun. Geh jetzt zu deinen Freunden, Seth. Aber vergiss mich nie.«
    »Das werde ich nicht, Mister.«
    Der Bettler lächelte ein letztes Mal, und nachdem er zum Abschied gewinkt hatte, drehte er sich um und humpelte in die Ruinen des zerstörten Gefängnisses zurück. Seth sah ihn in den Schatten verschwinden und machte sich dann auf den Rückweg durch die sengende Morgensonne. Ein schwarzer Wolkenschleier schien vom Horizont heranzukriechen, wie ein Blutfleck, der sich langsam in einem See ausbreitet.
     
    Michael blieb am Ende der Straße stehen, die zu Aryami Bosés Haus führte, und betrachtete fassungslos die rauchenden Überreste ihres Anwesens. Die Leute auf der Straße sahen schweigend den Polizisten zu, die in den Trümmern stocherten und die Nachbarn befragten. Er trat rasch näher und bahnte sich einen Weg durch den Pulk von Schaulustigen und bestürzten Anwohnern. Ein Polizeibeamter hielt ihn auf.
    »Tut mir leid, Junge. Zutritt verboten«, sagte er schneidend.
    Michael spähte über seine Schulter und sah, wie zwei seiner Kollegen einen herabgestürzten Dachbalken hochhoben, von dem noch Funken aufstoben.
    »Und die Frau, die in dem Haus wohnt?«, fragte Michael.
    Der Polizist warf ihm einen argwöhnischen, ungnädigen Blick zu.
    »Kanntest du sie?«
    »Sie ist die Großmutter von Freunden«, antwortete Michael. »Wo ist sie? Ist sie tot?«
    Der Polizist sah ihn einige Sekunden unbewegt an, dann schüttelte er den Kopf.
    »Sie ist spurlos verschwunden«, sagte er. »Ein Nachbar behauptet, er habe sie die Straße hinunterlaufen gesehen, kurz nachdem die Flammen aus dem Dach schlugen. Und jetzt verschwinde. Ich hab dir schon mehr gesagt, als ich dürfte.«
    »Danke, Mister«, sagte Michael und verschwand in der Menschenmenge, die sich in Erwartung eventueller makabrer Entdeckungen vor dem Haus drängte.
    Nachdem er sich aus dem Pulk von Gaffern und Nachbarn befreit hatte, sah er sich bei den umliegenden Häusern nach möglichen Hinweisen darauf um, wohin die alte Frau geflüchtet sein konnte. Sie hatte das Geheimnis mit sich genommen hatte, dem Seth und er beinahe auf die Spur gekommen wären. Die Straße mündete an beiden Enden in das Gewirr von Häusern, Basaren und Palästen der
Schwarzen Stadt
. Aryami Bosé konnte überall sein.
    Der Junge wägte kurz mehrere Möglichkeiten ab und entschied sich dann, nach Westen zum Ufer des Hooghly River zu gehen. Dort tauchten Tausende von Pilgern in das heilige Wasser des Gangesdeltas und bekamen statt seelischer Reinigung in den meisten Fällen Fieber und andere Krankheiten.
    Ohne noch einmal zu den Trümmern des vom Feuer zerstörten Hauses zurückzublicken, ging Michael durch die sengende Sonne davon und wich den Menschenströmen aus, die in den Straßen unterwegs waren und sie mit Geschrei, Zänkereien und unerhörten Gebeten erfüllten. Die Stimme Kalkuttas. Etwa zwanzig Meter hinter ihm tauchte eine Gestalt im schwarzen Umhang an der Biegung eines Gässchens auf und folgte ihm durch die Menge.
     
    Als Ian die Augen aufschlug, war ihm klar, dass seine chronische Schlaflosigkeit ihm trotz der Erschöpfung nach den Ereignissen

Weitere Kostenlose Bücher