Mitternachtspalast
man sie mir dieses Mal vollständig erzählt. Und was diesen Jawahal angeht, der eurem mysteriösen Informanten zufolge im Gefängnis war, so habe ich den Eindruck, dass er sich nicht packen lassen wird.«
De Rozio musterte die beiden Jungs. Sie waren kreidebleich. Der dicke Bibliothekar schenkte ihnen ein mitleidiges Lächeln.
»Mein Bedauern«, murmelte er. »Ihr müsst an der falschen Stelle geschnüffelt haben …«
Wenig später hockten Seth und Michael auf der Treppe vor dem Indischen Museum und sahen zu, wie es hell wurde. Ein leichter Sprühregen hatte die Straßen mit einem glänzenden Film überzogen, der im Schein der aufgehenden Sonne wie flüssiges Gold glänzte. Seth sah seinen Begleiter an und hielt ihm eine Münze hin.
»Bei Kopf gehe ich zu Aryami und du zum Gefängnis«, sagte er. »Bei Zahl umgekehrt.«
Michael nickte, die Augen halbgeschlossen. Seth warf die Münze hoch, und die Kupferscheibe funkelte in der Luft, bevor sie wieder in der Hand des Jungen landete. Michael beugte sich vor, um das Ergebnis zu betrachten.
»Grüß Aryami von mir«, sagte Seth.
Nach einer Nacht, die kein Ende zu nehmen schien, drang schließlich das Tageslicht in das Haus von Ingenieur Chandra Chatterghee. Als die Sonnenstrahlen die Dunkelheit durchdrangen, die sie stundenlang umgeben hatte, empfand Ian die Sonne von Kalkutta zum ersten Mal in seinem Leben als Wohltat.
Bei Tag sah das Haus nicht mehr bedrohlich aus, und auch Ben und Sheere waren sichtlich froh über den Einbruch der Helligkeit. Sie waren völlig erschöpft und todmüde. Sie konnten sich kaum erinnern, wann sie das letzte Mal geschlafen hatten, obwohl es erst ein paar Stunden her war. Die Müdigkeit und Erschöpfung nach all den sich überstürzenden Ereignissen führte dazu, dass sie nun mit einer Ruhe an die Sache herangingen, die ihnen in der Dunkelheit der Nacht völlig unmöglich erschienen wäre.
»Also«, sagte Ben. »Wenn man über dieses Haus irgendetwas sagen kann, dann, dass es sicher ist. Wenn unser Freund Jawahal reingekonnt hätte, wäre er reingekommen. Unser Vater mag exzentrische Hobbys gehabt haben, aber ein Haus sichern, das konnte er. Ich schlage vor, wir versuchen ein bisschen zu schlafen. So wie die Dinge stehen, schlafe ich lieber bei Tag und bin am Abend wieder munter.«
»Ich könnte nicht einverstandener sein«, stimmte Ian zu. »Wo könnten wir schlafen?«
»Es gibt mehrere Schlafzimmer in den Türmen«, erklärte Sheere. »Wir haben die Wahl.«
»Ich bin für nebeneinanderliegende Zimmer«, schlug Ben vor.
»In Ordnung«, sagte Ian. »Und etwas zu essen wäre auch nicht verkehrt.«
»Das muss warten«, entgegnete Ben. »Später gehen wir etwas besorgen.«
»Wie könnt ihr nur Hunger haben?«, wunderte sich Sheere.
Ben und Ian zuckten mit den Achseln.
»Elementare Physiologie«, antwortete Ben. »Frag Ian. Er ist der Arzt hier.«
»Wie sagte mal eine Lehrerin zu mir, die Literaturunterricht an einer Schule in Bombay gab?«, sagte Sheere. »Der größte Unterschied zwischen Mann und Frau ist, dass dem Mann der Magen wichtiger ist als das Herz. Bei der Frau ist es genau umgekehrt.«
Ben dachte über diese Theorie nach und ging dann zum Gegenangriff über.
»Ich zitiere wörtlich unseren liebsten Frauenfeind, Mr Thomas Carter, ledig von Beruf und aus Berufung: ›Der wahre Unterschied ist, dass der Magen des Mannes wesentlich größer ist als Hirn und Herz, das Herz einer Frau jedoch so klein, dass sie es ständig auf der Zunge trägt.‹«
Ian verfolgte den Wortwechsel berühmter Zitate mit offenem Mund.
»Küchenphilosophie«, urteilte Sheere.
»Küchenphilosophie, meine liebe Sheere«, entgegnete Ben, »ist die einzige Philosophie, die etwas taugt.«
Ian hob versöhnlich die Hand.
»Gute Nacht, ihr Turteltäubchen«, sagte er und verschwand in den Turm.
Zehn Minuten später schliefen alle drei tief und fest, und nichts und niemand hätte sie aufwecken können. Die Müdigkeit war stärker gewesen als die Angst.
Seth ging vom Indischen Museum in der Chowringhee Road eine halbe Meile in Richtung Süden und bog dann in die Park Street nach Beniapukur ein, wo sich in unmittelbarer Nähe des schottischen Friedhofs die Ruinen des ehemaligen Gefängnisses Curzon Fort befanden. Der mittlerweile vernachlässigte Friedhof der Schotten hatte sich ehemals außerhalb der Stadtgrenzen befunden. Damals war man aufgrund der hohen Sterblichkeitsrate und der raschen Verwesung der Leichen gezwungen gewesen,
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