Mitternachtsspitzen: Roman (German Edition)
müssen. Seine Briefe waren immer förmlich und derart bestimmend, dass sie sie nicht in Elsbeth’ Beisein las, aus Angst, ihr könnte impulsiv der eine oder andere ihrer früheren Kraftausdrücke herausrutschen.
Nach drei Jahren war die mentale Liste seiner Verfehlungen so lang, dass ihr schier der Kopf platzte. In seiner vorerst letzten Korrespondenz hatte er sie ohne Nennung von Gründen aufgefordert, bis auf weiteres in New York zu bleiben. Allerdings hatte sie fest vor, sich darüber hinwegzusetzen. Ihrer Meinung nach war sie inzwischen alt genug, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Die Musik endete mit einem Tusch, und Bertrand Mayhew tauchte unvermittelt neben ihr auf. »Miss … Miss Weston? Ich … ich … erinnern Sie sich noch…?«
»Aber das ist doch Mr. Mayhew!« Den Kopf leicht geneigt, betrachtete sie ihn unter halb gesenkten Wimpern, auch eine Übung, die sie in Zusammenarbeit mit Elsbeth zur Perfektion gebracht hatte. »Mein lieber, lieber Mr.
Mayhew. Ich hatte schon Bedenken – ernste Bedenken, in der Tat –, dass Sie mich vergessen und sich einer der jüngeren Damen zugewandt hätten.«
»Oh nein, niemals! Aber Miss Weston, wie können Sie so etwas von mir denken? Gütiger Himmel, nein. Meine selige Mutter würde mir das nie …«
»Ganz sicher nicht.« Mit einem artigen Nicken zu Hobart Cheney schlang sie ihren Arm durch Mr. Mayhews. Sie war sich durchaus gewärtig, dass die Geste zu vertraulich wirkte. »Aber, aber. Machen Sie doch nicht so ein Gesicht! Es war doch nur ein Scherz.«
»Ein Scherz?« Er sah sie so verstört an, als hätte sie ihm eben eröffnet, dass sie nackt über die Fifth Avenue spazieren wollte.
Kit unterdrückte ein Seufzen. Das Orchester spielte eine fröhliche Polka, und sie ließ sich von ihm aufs Parkett führen. Sie versuchte, ihre tiefe Niedergeschlagenheit zu überspielen, was die Blicke von Elsbeth’ Vater jedoch vereitelten.
Dieser aufgeblasene Idiot! Über Ostern war sie bei den Woodwards zu Besuch gewesen. Da hatte einer der Anwälte aus Hamiltons Kanzlei zu viel getrunken und war ihr im Musikzimmer der Woodwards nachgestellt. Sobald er seine sabbernden Lippen auf ihre gedrückt hatte, hatte sie ihn in den Bauch geboxt. Zufällig war Mr. Woodward just in dem Moment ins Zimmer gekommen. Sein Geschäftspartner hatte steif und fest behauptet, Kit hätte ihn zu dem Kuss animiert. Sie hatte das vehement abgestritten, aber Mr. Woodward hatte ihr nicht geglaubt. Seitdem versuchte er erfolglos, ihre Freundschaft mit Elsbeth auseinanderzubringen. Den ganzen Abend schon bombardierte er sie mit bitterbösen Blicken.
Sie vergaß Mr. Woodward, da sie zwei neue Gäste im Ballsaal erspähte. Der Mann kam ihr irgendwie bekannt
vor, und als das Paar Mrs. Templeton begrüßte, fiel ihr wieder ein, wer er war. Ach, du ahnst es nicht…
»Mr. Mayhew, begleiten Sie mich doch bitte zu Mrs. Templeton, ja? Sie plaudert gerade mit jemandem, den ich kenne und seit Jahren nicht mehr gesehen habe.«
Sämtliche Herren bemerkten, dass Miss Weston das Tanzen eingestellt hatte, und interessierten sich brennend für den Grund. Neidisch musterten sie den Neuankömmling im Saal. Was hatte dieser farblose, hagere Fremde an sich, dass die Wangen der reizenden Miss Weston so anziehend erröteten?
Brandon Parsell, ein ehemaliger Kavallerieoffizier in South Carolinas berühmter »Hampton’s Legion«, hatte etwas von einem Künstler an sich, obwohl er von Geburt aus Pflanzer war und von Kunst nicht mehr verstand, als dass er Pferdebilder mochte. Sein glattes, braunes Haar war seitlich gescheitelt und fiel ihm in die hohe Denkerstirn. Dazu trug er einen gepflegten Schnauz- und Backenbart.
Kein Mann, der leicht Freundschaften mit seinesgleichen schloss, aber genau der Typ, der Frauen anzog, da er Ritterlichkeit und schwärmerische Romantik verströmte.
Seine Begleiterin, die dralle Eleanora Baird, war die etwas zu sehr herausgeputzte Tochter seines Arbeitgebers. Sie machte ihn mit Mrs. Templeton bekannt, worauf er mit einer höflichen Verbeugung und einem artigen Kompliment reagierte. Niemand hätte seinem leicht gedehnten Südstaatenakzent angemerkt, wie sehr ihm das alles zuwider war: die schillernde Gästeschar, die bornierte Gastgeberin und die junge Nordstaaten-Dame, die er an diesem Abend ausführen musste.
Unvermittelt übermannte ihn ein Anflug von Heimweh. Er sehnte sich wieder nach den schattigen Gärten in Charleston, den friedvollen Abenden auf Holly Grove,
der
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