Mitternachtsstimmen
aus, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie lächelten sie an,
nickten mit den Köpfen und gaben sich so betulich wie Hennen
angesichts eines verwundeten Kükens.
Hennen … Das war es: Die Gesichter gehörten alle Frauen.
Mit Ausnahme von Tony und Dr. Humphries, und –
»Laaaurieee!«
Der entsetzte Schrei brodelte in ihrer Erinnerung hoch, und
obwohl ihr Name in dem chaotischen Gebrüll kaum zu
verstehen war, erkannte sie die Stimme sofort. Ihre Mutter!
Ihre Mutter war auch dabei gewesen, hatte versucht sie zu
retten, sie zu bewahren vor –
Vor was?
Sie wusste es nicht.
Nur eines wusste sie ganz gewiss: Das war kein Traum.
War nie ein Traum gewesen.
Es hatte sich alles in Wirklichkeit so abgespielt. Die
Stimmen hinter der Wand ihres Zimmers, die Gestalten an
ihrem Bett, die Finger, die sie gestupst hatten – all das war
wirklich geschehen.
Sie spürte, wie ein Schluchzer sich in ihrer Kehle formte,
und plötzlich veränderte sich etwas. Fast unmerklich, dass sie
schon glaubte, sich geirrt zu haben, doch dann passierte es
wieder – ein sanfter Lufthauch strich über ihre Wange hinweg,
als ob jemand irgendwo eine Tür geöffnet hätte. Sie schluckte
den Schluchzer hinunter, blieb mucksmäuschenstill liegen,
hielt sogar die Luft an und lauschte.
Schritte.
Dann wurde es ein wenig heller, so dass sie zumindest ihre
nähere Umgebung erkennen konnte. Über ihr schwere
Holzbalken, die ungehobelte Dielenbretter trugen.
Um sie herum Ziegelwände, im Laufe der Jahre dunkel
geworden.
Überall Rohre und Leitungen, sie sich um die Balken
herumschlängelten und an den Wänden nach oben stiegen.
Der Keller – das musste der Keller des Rockwell sein. Und
während die Schritte immer näher kamen, drehte sie noch
einmal den Kopf zur Seite und schaute zu der anderen Trage
hin. Jetzt konnte sie die Gestalt darauf deutlich erkennen – ein
Junge, so dünn, dass er beinahe unter dem Laken verschwand,
mit dem er zugedeckt war. Sein Kopf war ebenfalls zur Seite
gedreht, er schaute zu ihr herüber, und Laurie konnte seine
Augen sehen, die tief in die Höhlen gesunken waren und in
dem ausgezehrten Gesicht riesig wirkten. Er lag so still da, dass
Laurie einen schrecklichen Moment lang glaubte, er sei tot.
Doch dann sah sie ihn in dem immer heller werdenden Licht
blinzeln.
Er blinzelte, stöhnte und schien noch mehr in sich
zusammenzuschrumpfen. Kurz darauf hörte Laurie ein
ratterndes Geräusch, das klang, als ob jemand einen dieser
Einkaufswagen auf sie zuschöbe, dann eine bekannte Stimme,
die sie im Moment niemandem zuordnen konnte. Doch als kurz
darauf ein Schatten über sie fiel, und sie hochsah, wusste sie
augenblicklich, wem diese Stimme gehörte.
Rodney. Neben ihm stand ein alter Teewagen, ähnlich wie
die, die in dem Laden verkauft wurden, wo ihre Mutter
arbeitete. Darauf standen zwei Gläser, gefüllt mit etwas
Undefinierbaren.
Der Portier schaute auf sie herab, und als er zu sprechen
begann, musste Laurie den Kopf abwenden, so eklig stank sein
Atem.
»Tu das nicht«, sagte Rodney, nahm ihr Kinn zwischen
Daumen und Zeigefinger und drehte ihren Kopf wieder zurück.
»Ich möchte dich ansehen. Dreh dich nicht weg, wenn ich dich
ansehe.«
Laurie versuchte laut zu schreien, doch ihre Stimme ließ sie
im Stich. Wehrlos musste sie in die Augen des Portiers starren.
»Essenszeit«, verkündete der, den Griff um ihr Kinn ein
wenig lockernd. Dann stieß er einen komischen Laut aus, der
vielleicht ein Lachen sein sollte. »Wir können dich doch nicht
verhungern lassen, oder?«, scherzte er. »Oh, nein – das können
wir nicht. Noch nicht, jedenfalls.«
Dann schob Rodney einen Arm unter ihre Schultern, der sich
kalt und klamm anfühlte, und half ihr sich aufzusetzen; dabei
wäre beinahe ihre Decke heruntergerutscht. Während er sie mit
der einen Hand stützte, nahm er mit der anderen Hand eines der
beiden Gläser und hielt es ihr an die Lippen.
Zu schwach, um sich zu wehren, öffnete Laurie die Lippen,
und einen Augenblick später füllte sich ihr Mund mit einem
faulig schmeckenden Schleim, gegen den ihr Magen sofort
rebellierte.
»Schluck das«, befahl Rodney und hielt ihr vorsichtshalber
den Mund zu, damit sie das Zeug nicht ausspucken konnte. Er
brachte den Kopf näher an ihr Gesicht, und sein fauliger Atem
strich über sie hinweg, als er ihr ins Ohr zischte: »Jetzt schluck
endlich runter! Oder willst du lieber gleich sterben?«
Ihr Magen hob sich, der widerliche Gestank
Weitere Kostenlose Bücher