Mitternachtsstimmen
reif war – so reif wie seine Schwester – würden auch
alle anderen Männer ihre Jugend zurückgewinnen, nicht nur
Anton.
Aber nächstes Mal würde sie die Kinder selbst aussuchen.
Sie hatte gewusst, dass die beiden ein Fehler waren – das hatte
sie Lavinia und Alicia gleich zu Anfang gesagt, als sie
eingezogen waren. Sie und ihre Mutter.
Das war der eigentliche Fehler gewesen – Kinder mit Mutter
auszuwählen. Wie lange, glaubte Anton, kämen sie damit
durch? Beim letzten Mal, als sie Zwillingsbuben gefunden
hatten, die beinahe schon reif waren, und weder er noch die
anderen Männer dem winkenden Festmahl hatten widerstehen
können, da mochte es ja das Risiko wert gewesen sein. Aber
diesmal war es definitiv ein Fehler gewesen. Auch wenn
Caroline weggesperrt war, war Melanie fest davon überzeugt,
dass die Polizei wieder kommen würde. Anton würde ihre
Bedenken garantiert zerstreuen, doch sie wusste, dass es mit
jedem Jahrzehnt schwieriger werden würde. Aber als sie
nochmals einen Blick in den Spiegel warf, da wusste Melanie,
dass sich jedes Risiko lohnte, ganz gleich, wie groß.
Selbst mit den Kratzern und den ausgerissenen Haaren sah
sie heute besser aus als seit Jahrzehnten. Vielleicht sogar
Jahrhunderten …
Ryan hörte das Schloss einschnappen und warf einen Blick auf
den Wecker auf seinem Nachttisch. Erst kurz nach halb vier.
Tony hatte gesagt, er würde nicht vor halb sechs oder sechs
zurück sein, was bedeutete, dass Ryan zwei Stunden blieben,
das Gewirr der Geheimgänge zu erforschen. Zumal er ziemlich
sicher sein konnte, Melanie Wie-immer-sie-heißen-mochte so
vergrault zu haben, dass sie sich nicht mehr in seine Nähe
wagen würde, bis sein Stiefvater nach Hause käme.
Genau so hatte er es vom ersten Augenblick an geplant, als
sie kam, um auf ihn aufzupassen, während sein Stiefvater
seinen Geschäften – wie immer die aussehen mochten –
nachging. Er hatte genau gewusst, dass sie nicht gekommen
war, um mit ihm zu spielen, sondern einzig und allein deshalb,
damit er nicht fortlief. Es war nicht schwierig gewesen, ihr so
zu schmeicheln, dass sie ihn auf die Toilette gehen ließ, und
hinterher so nett zu sein, dass sie ihm erlaubte, sich außerhalb
seines Zimmers aufzuhalten, so lange, bis er gefunden hatte,
was er suchte. Auch das war nicht schwierig gewesen – in der
unteren Küchenschublade hatte er ein ganzes Paket Batterien
entdeckt, die einige Zeit reichen würden.
Außerdem hatte er noch den Schlüsselbund mitnehmen
wollen, den seine Mutter gestern aus dem Laden gemogelt
hatte. Das war ein bisschen kniffliger gewesen, da ihre Tasche
nicht wie üblich auf dem Tisch in der Diele stand. Er fürchtete
schon, die Schlüssel hätte sie in die Klinik mitgenommen, doch
dann beschloss er, sie trotzdem zu suchen. Das hatte eine ganze
Stunde gedauert. Schließlich hatte er sich sogar in das
Ankleidezimmer, das von dem großen Schlafzimmer abging,
schleichen und alle Schubladen aufziehen müssen, bis er
endlich fündig wurde. Melanie, oder wie immer sie in
Wirklichkeit hieß, hätte ihn um ein Haar erwischt, aber er hatte
sich noch rechtzeitig in sein Zimmer flüchten können, ehe sie
die Treppe heraufkam. Und als sie ihn dann fragte, was er denn
täte, lag er bereits ausgestreckt auf seinem Bett und las,
während der Schlüsselbund sicher unter der Matratze verstaut
war, wo sie ihn nie finden würde. Einen Wäschestift hatte er
auch mitgehen lassen, damit er nicht wertvolle Zeit damit
vergeuden musste, die Pfeile in die Mauern zu ritzen, um sich
nicht zu verirren.
Jetzt, sicher in seinem Zimmer eingesperrt, und Melanie so
wütend, dass sie niemals auf die Idee käme, ihn herauszulassen, überprüfte er seine Taschen ein letztes Mal. Messer,
Wäschestift und Schlüsselbund waren in der vorderen Tasche
seiner Jeans, und in den Jackentaschen steckten die Reservebatterien. Er war bereit.
Eine halbe Stunde später hatte er einen Weg durch das
finstere Labyrinth gefunden und war sicher, in den Keller
gelangt zu sein. Die meisten der Gänge waren sehr eng
gewesen, abgesehen von dem großen Raum, von dem er
glaubte, dass er sich direkt hinter Tonys Arbeitszimmer befand.
Dort standen Regale mit Flaschen und Schläuchen und
dergleichen herum, die aus einem Krankenhaus hätten
stammen können, und von diesem Raum zweigten weitere
Gänge ab. Einige von ihnen hatte er erforscht und festgestellt,
dass in den Wänden Gucklöcher waren. Durch
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